Bergamo: „Lucrezia Borgia“

kritisch editiert von Roger Parker & Rosie Ward

Premiere: 22.11.2019

Lieber Opernfreund-Freund,

das Donizetti-Festival in Bergamo tut sich eigentlich durch die Ausgrabung von (nahezu) nie gehörten Opern des wohl berühmtesten Sohnes der Stadt hervor, hat der Maestro doch mehr als 70 Bühnenwerke hinterlassen. Genug Futter also für das Festivalprogramm von Jahrzehnten, sollte man meinen. Und doch hat man sich dazu entschlossen, neben den beiden absoluten Raritäten L’ange de Nisida und Pietro il Grande – Kzar delle Russie, die Neuinszenierung eines Werks zu zeigen, das heutzutage beinahe zum festen Bestandteil des Belcantorepertoires gehört und das erst 2007 in Bergamo zu sehen war, Lucrezia Borgia. Die kritisch editierte Fassung von Roger Parker und Rosie Ward hatte gestern im Teatro Sociale in der Altstadt von Bergamo Premiere – und so sehr mich das höchste Niveau von Musikern und Sängerpersonal überzeugt, so wenig hat mich die Neuedition packen können.

Warum es nötig ist, ein Werk, das sich erst seit vergleichsweise wenigen Jahren wieder einen Platz auf internationalen Spielplänen hat erkämpfen können, einer kritischen Überarbeitung zu unterziehen, versucht Robert Parker im wie immer extrem informativen Begleitbuch zur Produktion zu erläutern. Und sicher mag er Recht haben, wenn er feststellt, dass Donizetti selbst seine Werke – und eben auch Lucrezia Borgia – immer wieder kleineren und größeren Überarbeitungen unterzogen hat und man deshalb nie von einer letztgültigen Fassung sprechen könne. Doch gibt es mit Sicherheit so etwas wie die etablierteste Version – und davon abzuweichen, ist nicht immer opportun. Man stelle sich eine Tosca mit einem Vissi d’arte vor, dessen zweite Hälfte eine andere Melodie hat, als die, die Sie kennen – oder ein Der Hölle Rache mit nur einer halben Strophe und ein wenig angedeuteter Koloratur. Doch gerade die Partie der Titelfigur hat das Duo Parker/Ward den meisten Änderungen unterworfen, die Auftrittsarie hat eine abweichende zweite Hälfte und Lucrezias Schlussgesang Era desso il figlio mio klingt nach der Überarbeitung wie ein kläglicher Schatten, eine abgespeckte Version der Arie, mit der dutzende Sopranistinnen seit Monsterrat Caballé und Leyla Gencer, die das Werk ab Mitte der 1960er Jahre dem Dornröschenschlaf entrissen, haben reüssieren können. Die Frage der Notwendigkeit der Rückführung in vermeintliche Urfassungen muss jeder für sich selbst beantworten – bei mir herrscht da mangelnde Einsicht, hat doch einst der Komponist selbst die Änderungen an seiner Partitur vorgenommen und damit die bekannte Finalversion geschaffen.

Mangelnde (Ein)sicht ist ein gutes Stichwort, um auf die szenische Seite des gestrigen Abends zu sprechen zu kommen. Das Regieteam um Andrea Bernard hat Lucrezias Mutterrolle ins Zentrum seiner Inszenierung gestellt, auf einer beleuchteten rechteckigen Fläche (Bühne: Alberto Beltrame) wird der jungen Lucrezia vom Pabst ein Säugling entrissen, auf sie zieht sie sich mit Gennaro zurück, wenn sie – zu spät – seinem Sehnen nach einer Mutter entsprechen will. So erzählen es zumindest die übermittelten Produktionsfotos, denn von meinem mir von der Pressestelle zugewiesenen Platz in der zweiten Reihe einer Loge auf der Seite konnte ich geschätzt gerade ein Drittel der Bühne sehen – und jene Fläche eben gar nicht. Deshalb kann ich nur vom Stilmix der Kostüme von Elena Beccaro berichten, die Kniebundhosen mit kniehohen Stiefeln und historisch anmutende Gewänder mit Ledermänteln paart. Das Gelb aus dem Wappen der Borgias bestimmt nicht nur Lucrezias Gewand und das Jäckchen, das sie ihrem Sohn überzieht, sondern bleibt auch der einzige Farbtupfer in einer ansonsten ausgesprochen düsteren Inszenierung.

Musiziert, das konnte ich ja dann wieder hervorragend hören, wurde hingegen nicht nur überzeugend, sondern durch die Bank brillant. Riccardo Frizza führt das Orchestra Giovanile Luigi Cherubini versiert und mit Schwung durch den Abend, zeigt viel Esprit und hohes Einfühlungsvermögen für die Sänger, präsentiert die Lucrezia Borgia beschwingt und frisch. Der Chor stammt aus Piacenza, mit u.a. dessen Theater die Koproduktion entstanden ist. Angeleitet von Corrado Casati präsentieren sich die Herren in Bergamo präzise singend und engagiert spielend. Marko Mimica ist ein imposanter Don Alfonso mit eindrucksvollem Bassbariton, ein energiegeladener Gegenspieler der Titelfigur. Der erst 32jährige Kroate macht zusammen mit Carmela Remigio die zweite Szene im 1. Akt zu einem der Höhepunkte des Abends. Carmela Remigio hat schon beim Donizetti-Festival 2018 tiefen Eindruck auf mich gemacht, toppt aber gestern alles, was ich an darstellerischer Intensität und Farbenreichtum in Bergamo je habe sehen dürfen. Ihre künstlerische Kraft und ihre Energie springen förmlich über den Graben und hätte man sie die bekannten Versionen der beiden großen Arien darbieten lassen, es hätte das Publikum von den Sitzen gerissen! Die unglaublichen Emotionen, der atemberaubende Gesang und das leidenschaftliche Spiel: Bravissima!!

Ihr in nichts nach steht ihr Bühnensohn Xabier Anduaga, ein junger Tenor aus dem Baskenland, der schon im vergangenen Jahr ein beeindruckender Leicester war. Sein Stimmmaterial verfügt über viel Substanz in der Mittellage, virile Kraft, eine lyrische Höhe mit metallisch klingenden Spitzentönen und er über endlos erscheinenden Atem. Besser kann man den Gennaro kaum ausfüllen. Nicht genug loben kann ich auch den Orsini von Varduhi Abrahamyan, deren stimmgewaltiger Mezzo die Borgia-Erzählung zu Beginn ebenso zum Ereignis macht, wie das Trinklied im Schlussakt und deren Passion das von der Regie über die Maßen angeschwulte Verhältnis zu Gennaro zumindest nachvollziehbar macht. Vom stimmschönen Spieltenor von Edoardo Milletti hätte ich mir als Rustighello ein wenig mehr Biss gewünscht und aus der Unzahl kleinerer Rollen bleibt vor allem Federico Benetti, der exquisite Mönch des Vorabends, als Astolfo im Ohr.

Ein Abend der tollen Stimmen im Teatro Sociale also, lieber Opernfreund-Freund, der szenisch vor allem von den hervorragenden Sängerdarstellern Varduhi Abrahamyan, Marko Mimica und Carmela Remigio lebt. Über Sinn und Unsinn der Partiturüberarbeitung lässt sich trefflich streiten – über den der Ticketdisposition für Rezensenten, die ja eigentlich sehen sollen, was sie besprechen, sicher auch. Dennoch freue ich mich, Ihnen morgen von gleicher Stelle und hoffentlich anderem Sitzplatz von der gewissermaßen italienischen Version von Zar und Zimmermann berichten zu können.

Ihr
Jochen Rüth

23.11.2019

Die Fotos stammen von Gianfranco Rota.