Turin: „Samson et Dalila“

Aufführung am 20.11.16 (Premiere am 15.11.)

Zwischen Ästhetik und Kitsch

Nach einer von der Fura dels Baus verantworteten „Bohème“ war das Werk von Camille Saint-Saëns der zweite Titel der Saison 2016/17 in Turin. Allerdings war diese Neuinszenierung bereits 2015 in China zu sehen gewesen, weil es sich um eine Koproduktion mit dem China National Centre for the Performing Arts handelte.

Diese Tatsache hatte sichtbare Auswirkungen auf die ästhetische Gestaltung, denn Regisseur Hugo De Ana entsprach in den von ihm selbst entworfenen Bühnenbildern und Kostümen dem Wunsch der Chinesen nach Aufwand und Farbigkeit. So gab es neben sehr schönen, durch Videos von Sergio Metalli und die Beleuchtung von Vinicio Cheli unterstützten Bildern auch solche, die die Grenze zum Kitsch überschritten. Unter den ersteren fand sich gleich das Eingangsbild mit den klagenden Hebräern, die sich an eine Tempelmauer schmiegten und erst langsam Form gewannen, oder das zeltartige Gemach Dalilas und auch der Tempel vor seinem Einsturz im 3. Akt.

Zu letzteren gehörten die seltsam, wie eine Art Blumenmädchen, gewandeten Begleiterinnen der Dalila, die sich in einer wenig prägnanten Choreographie von Leda Lojodice bewegen mussten, was den Choristinnen merklich nicht leicht fiel. De Ana arbeitet für Balletteinlagen immer mit dieser Künstlerin zusammen, eine Wahl, die mich noch nie überzeugt hat. Auch das Bacchanale im 3. Akt geriet – wie fast immer, wenn in der Oper Orgien darzustellen sind – eher peinlich, was durch fröhlich hin- und herschwingende umgeschnallte Penisse noch verschärft wurde. Ansonsten waren die Kostüme für den in Hebräer und Philister geteilten Chor passend; Samson zeigte sich in eher zeitloser Aufmachung, Dalila war wunderschön gewandet, und das prachtvollste Kostüm trug Abimelech, der Satrap von Gaza.

Darstellerisch wurde von den Sängern nicht viel verlangt, was zum Teil auch auf die in dem Werk selbst liegende Statik zurückzuführen sein mag. Ungeschickt inszeniert waren die Ermordung Abimelechs durch die Hebräer, denn er wurde schlicht vom Pferd gestoßen, sowie vor allem der Moment, als sich Samson Dalilas Liebeswerben ergibt, denn da geht er einfach von der Bühne ab, während die Verführerin hoch oben wie an einem Fenster zu sehen ist.

Im Ganzen war es dennoch eine Erholung für das von Schutt und Gerümpel jeder Art in so vielen Inszenierungen beleidigte Auge des Opernliebhabers, wobei der positive Eindruck durch die musikalische Seite noch verstärkt wurde. Pinchas Steinberg setzte mit dem Orchester des Hauses Maßstäbe, so intensiv wurde jede der der Partitur innewohnenden Stimmungen realisiert, von der dumpfen Verzweiflung der Hebräer über die heroischen Appelle Samsons bis zu den sinnlich-flirrenden Verführungskünsten der Dalila. Diese war für Daniela Barcellona in dieser Serie ein Rollendebüt. Sicher fehlen diesem ausgezeichneten Mezzosopran die reichen Tiefen einer Altstimme, aber sie wurde der Rolle gesanglich gerecht, obwohl mir schien, als habe die sichtlich erschlankte Sängerin mit den Kilos auch etwas an Stimmvolumen verloren. Großartig in Form war Gregory Kunde, der die dramatischen Appelle an sein Volk ebenso souverän beherrschte wie die Tragik seiner Arie im letzten Akt und außerdem sensationell zart sein dreimaliges „Dalila, je t’aime“ zu platzieren verstand – eine für einen Spintotenor mehr als beachtliche Leistung.

Claudio Sguras leicht angerauhter Bariton passte gut zum Hohepriester des Dagon, den er im Duett des 2. Akts mit Dalila sehr dramatisch interpretierte. Ihm ist allerdings eine sehr schlechte Aussprache des Französischen vorzuwerfen. Wenig furchterregend klang Andrea Comelli als Abimelech, während Sulkhan Jaiani als Alter Hebräer Samson sehr nachdrücklich vor Dalila warnte. In Kleinstrollen ergänzten Roberto Guenno, Cullen Gandy und Lorenzo Battagion. So stimmstark wie nuanciert war der von Claudio Fenoglio einstudierte Chor des Hauses zu hören. Viel Jubel eines begeisterten Publikums am Schluss; Steinberg wurde richtigerweise besonders gefeiert

Eva Pleus 28.11.16

Bilder: Ramella e Giannese / Teatro Regio Torino