Turin: „Norma“

Aufführung am 26.7.15 (Premiere am 12.7.)

Zwischen Turin und Mailand liegen 140 km, die aber mit den neuesten Hochgeschwindigkeitszügen in 40 Minuten überwunden werden können. Das veranlasste die Leitung des Teatro Regio, nach Beendigung der eigentlichen Saison weitere vier Titel je viermal anzusetzen, um damit Besucher der Mailänder Weltausstellung anzulocken. Diese letzte Vorstellung von Bellinis Meisterwerk beschloss das Unternehmen (die anderen Titel waren „Traviata“, „Bohème“ und „Barbier von Sevilla“).

Und welch musikalisch großartige Aufführung im nicht ganz vollen Haus („Norma“ ist ja eindeutig weniger populär als die zuvor genannten Werke)! Manchmal mache ich mir Sorgen um die junge Maria Agresta, die nicht nur eine rasche Karriere macht, sondern auch in beängstigender Geschwindigkeit neue Rollen in ihr Repertoire aufnimmt. Die Sorge scheint zur Zeit unbegründet, denn wir hörten eine stimmtechnisch perfekte Verkörperung der Titelrolle, die von der Sängerin mit höchster Präzision der musikalischen Vorgaben interpretiert wurde. Es ist dies immerhin die anspruchsvollste Partie des italienischen Belcantorepertoires, und sie wurde von dieser wunderbar timbrierten, ebenmäßigen Sopranstimme in vollkommener Schönheit zu Gehör gebracht. Da es sich um eine Produktion aus 2002 handelte (die angenehm konservative Regie des verstorbenen Alberto Fassini wurde in der hinsichtlich des Bühnenbilds mit seinen verschiebbaren Felsenteilen überzeugenden, bei den Chorkostümen etwas sehr altmodischen Ausstattung von William Orlandi von Vittorio Borrelli betreut), die in Turin auch 2012 zu sehen war, gab es merklich keine besonderen schauspielerischen Tipps für die Sänger.

Nun ist Maria Agresta keine geborene Schauspielerin, macht nichts falsch, bringt aber auch nichts Neues, sodass ihre vokale Leistung, mit der sie alle Nuancen von Liebe, Hoffnung, Verzweiflung, Hass interpretierte, doppelt zählt. Ihr zur Seite Veronica Simeoni, die ihren Mezzo genau auf Agrestas Stimmfarbe abstimmte, sodass die Duette Norma-Adalgisa zu einem solchen Fest für die Ohren wurden, dass man als Zuhörer nicht genug davon bekommen konnte. Zudem ist Simeoni mit ihrer zauberhaften Erscheinung die ideale Verkörperung der verliebten Priesterin. Einen heldischen Pollione, dem aber im Duett mit Adalgisa auch schöne Pianophrasen zur Verfügung standen, sang Roberto Aronica (von dem man sich bei seinem kommenden Otello-Debüt einiges erwarten darf). Riccardo Zanellato gab einen nicht mehr als passablen Oroveso, Andrea Giovannini einen auffallend beteiligt klingenden Flavio. Als Clotilde klang Samantha Korbey unsicher und dumpf. Hätte es für die Rolle keine italienische Sängerin gegeben?

Der von Claudio Fenoglio einstudierte Chor kann in seiner potenten Sangesfreude und musikalischen Präzision nicht genug gelobt werden. Roberto Abbado am Pult machte es den Sängern nicht immer leicht, wenn er in Bellinis langen Melodiebögen schwelgte (und dafür den „Guerra“-Chor äußerst rasant nahm). Im Ganzen legte er aber eine gute Interpretation vor.

Riesiger Jubel dankte für diese ergreifend schöne Vorstellung.

Eva Pleus 28.7.15

Bilder: Ramella & Giannese / Teatro Regio di Torino