Aachen: „Au Monde“

von PHILIPPE BOESMANS

Premiere am 6 Dezember

Zweitvorstellung am 11. Dezember

Eine Premierenkollision führte dazu, dass die Deutsche Erstaufführung von Philippe Boesmans „Au monde“ in Aachen erst zur zweiten Vorstellung, eine Woche nach der Premiere, gesehen werden konnte. Der Zuschauersaal war an diesem Abend deprimierend schütter besetzt. Die Aufforderung des Intendanten-Dramaturgen MICHAEL SCHMITZ AUFTERBECK bei seiner (ebenso exzellenten wie emphatischen) Live-Einführung mündete also nicht zu Unrecht in die Bitte, für die engagierte Aachener Produktion Mundpropaganda zu machen. Bei der müsste sich gerechterweise herumsprechen, dass der Stoff zwar nicht leicht zu rezipieren ist, die Musik hingegen keinerlei Hörbarrieren aufbaut. Anders als die vorjährige Erstaufführung von Charles Wuorinens „Brokeback Mountain“ bietet der bald achtzigjährige Belgier Philippe Boesmans Musik von einer fast schon auf die Spitze getriebenen Wohltönigkeit, bei welcher Avantgardeapostel vermutlich die Nase rümpfen.Hin und wieder erinnern auch zeitgenössische Komponisten daran, dass harmonische Wärme und lyrische Linie immer noch einen musikalischen Wert darstellen.

Das Theater Hagen demonstrierte das in der vergangenen Spielzeit mit Samuel Barbers „Vanessa“, die freilich schon mehr als sechzig Jahre auf dem Buckel hat. Boesmans „Au monde“ geht noch einige Schritte weiter „rückwärts“; bei einem von Hörnern intonierten reinen Dreiklangs-Dur muss man sich regelrecht die Ohren reiben.

Bei der noch von Gerard Mortier initiierten Brüsseler Uraufführung vor gut einem Jahr (auf CD festgehalten und ausschnittweise auf Youtube zu begutachten) soll die Musik Boesmans‘ vor allem nach Debussy geklungen haben. Dessen „Pelléas“ wie auch Tschechows „Drei Schwestern“ reklamiert Joel Pommerat für die Opernfassung seines Dramas kaum von ungefähr. In Aachen habe man, so Schmitz-Aufterbeck, mehr Wagner und Strauss gehört. Auch etwas aus Schönbergs „Gurreliedern“ (Tove-Solo) oder auch vom Malo-Lied aus Brittens „Turn oft he Screw“ meint man ausmachen zu können. Aber das ist mehr Klangerinnerung, kein vordergründiger Eklektizismus. Das große Schlagzeugarsenal im individuell besetzten Orchester schafft zwar mitunter eruptive Wirkungen, doch überwiegt der Ausdruck des Sensiblen, was JUSTUS THORAU mit demSINFONIEORCHESTER AACHEN sehr gut zur Geltung bringt.

Von Handlung ist bei Joel Pommerat (originales Schauspiel 2004, nun die Opernversion) nicht zu sprechen, sogar die Inhaltsangabe im Programmheft wirkt mosaikartig. Es gibt freilich eine feste familiäre Konstellation: Vater (Waffenfabrikant), drei Töchter (die jüngste wurde statt der verstorbenen Phädra angenommen), zwei Söhne und der Gatte der Ältesten, die aber nicht sagen kann, ob das zu erwartende Kind von ihm stammt. Es geht zwar auch um die Frage der Firmenübernahme durch den jüngsten Sohn (als einziger trägt er einen Namen: Ori), doch vorrangig um die unwägbaren, mehrdeutigen und fatalistischen Beziehungen zwischen den Personen. Eine „fremde Frau“ kommt als katalysatorische Figur hinzu. Das Ganze spielt sich in einem abgeschlossenen Raum ab, welcher trotz seiner großzügigen Dimension und klaren Struktur (OLIVER BRENDEL) mit der muffigen Atmosphäre von Bernarda Albas Haus bei Lorca zu vergleichen wäre. In dieser Abgeschlossenheit (nur gelegentlich erblickt man durch ein Fenster die Außennatur) prallen Konflikte aufeinander, ohne dass man als Zuschauer freilich letzte Klarheit über all diese „liaisons dangereuses“ gewänne.

Gleitend werden die dezenten Umbauten arrangiert. Sie vollziehen sich im Dunklen, intensiv blau leuchtende Glühbirnen an der Rampe „blenden“ den Zuschauer und nehmen ihm die Sicht auf die Bühne.

Es sei erst gar nicht der Versuch unternommen, die ganzen personalen Nesselfäden zu entwirren. Boesmans und Pommerat möchten offenkundig dem Geheimnisvollen Raum geben, hoffen wohl auch, dass der Zuschauer Gesehenes gedanklich individuell fortspinnt. Andeutendes ist es in der Tat vor allem, welches den zweistündigen, pausenlosen Abend so faszinierend macht. Es gibt keinen Knalleffekt als Schluss, das Publikum benötigte in der gesehenen Vorstellung einige Zeit, um sich bewusst zu machen, dass das Ende der Aufführung erreicht war.

Es muss auch nicht jeder Regieeinfall akribisch nach seinem konkreten Sinn befragt werden. Die Inszenierung von EWA TEILMANS gibt sich über weite Strecken oratorisch, gönnt sich gestische Direktheit nur ergänzend, belässt emotional vieles im Schwebezustand. Das schafft eine beklemmende Spannung und unterstützt die Aussage der Regisseurin „Die Wahrheit auszuhalten ist für jedermann gefährlich, deshalb lügen alle“.

Das Sängerensemble: intensiv und vokal hochrangig. Von der expressiven Leuchtkraft von CAMILLE SCHNOORs Sopran (zweite Tochter, eine besonders hervorstechende Partie) wird man geradezu aus der Bahn geworfen, auch die anderen Töchter (SANJA RADISIC und SUZANNE JEROSME) brennen vokal. RANDALL JAKOBSH bietet als Vater einen kernigen Sarastro-Bass, das geistige Verdämmern der Figur erfährt man somit primär durch die Darstellung. Den nicht eben sympathischen Schwager umreißt JOHAN WEIGEL mit heldentenoraler Verve. Besonders ausladend wirkt diesmal der Bariton von HROLFUR SAEMUNDSSON (Ori). Die „fremde Frau“, welche Frank Sinatras „My way“ mehrfach mit Fremdstimme zum Besten anstimmt, gibt MARIKA MEOLI.

Wer erklärt uns noch die tiefere Bedeutung des Werktitels „Au monde“?

Christoph Zimmermann 14.12.15

Bilder (c) Theater Aachen / Carl Brunn