Aachen: „L’Incoronazione di Poppea“

Premiere: 24.09.17

besuchte Vorstellung: 18.10.17

Entschleunigendes Musiktheater

Lieber Opernfreund-Freund,

„L’incoronazione di Poppea“ von Claudio Monteverdi gilt als eine der ersten Opern der Geschichte, die für ein öffentliches Opernhaus geschrieben wurden, und nicht nur deshalb ist das Werk musikhistorisch interessant. Die Originalpartitur ging verloren, es existieren nur zwei (unterschiedliche) Abschriften aus Venedig bzw. Neapel, die aber beide nicht der Urfassung entsprechen und erst mehr als zehn Jahre nach der Uraufführung entstanden sind, weshalb es immer wieder Zweifel bezüglich Monteverdis alleiniger Urheberschaft gibt. Zum 450. Geburtstag des Komponisten nun präsentiert das Theater Aachen seit Beginn dieser Spielzeit erstmals die kritische Neuausgabe aus dem Bärenreiter-Verlag, die sich dem Vernehmen nach an der 1652er Abschrift aus Venedig orientiert, und ergänzt diese durch Zwischenspiele – und das habe ich mir gestern für Sie angesehen.

Monteverdis letztes Bühnenwerk, 1642 während der Karnevalssaison in Venedig uraufgeführt, besticht auch heute noch durch seine musikalische Brillanz, seine Vielschichtigkeit und seine aus heutiger Sicht zukunftsweisende Art des Komponierens. Statt der viel später angewandten Secco-Rezitative handelt es sich um ein durchkomponiertes Werk voller musikalischer Schönheit mit – im Vergleich zu den fast 100 Jahren später entstandenen Händel-Opern – ausgesprochen wenig Stimmakrobatik. An deren Stelle treten eindrucksvolle Melodieführungen und wenige, aber vielleicht dadurch umso eindringlichere ariose Anteile. Regelrecht entschleunigt wird man durch diese Musik und auch die Inszenierung von Jarg Pataki mit ihrer unaufgeregten Personenführung, klaren hellen Tönen mit wenig farbigen Anteilen und futuristisch anmutenden Aufbauten lädt ein wenig zum Sinnieren ein. In eine Art Nicht-Zeit hat der Schweizer die Handlung verlegt, die sich um den römischen Kaiser Nero dreht. Der ist seiner Frau Ottavia überdrüssig und hat sich in Poppea verliebt. Die hat ihren Geliebten Ottone verlassen, um frei zu sein für den Kaiser. Neros Ratgeber Seneca missfällt Neros Plan und er gerät darüber mit dem Herrscher so in Streit, so dass der Despot den Selbstmord des Moralwächters Seneca befiehlt. Ottavia stiftet Ottone zum Mord an Poppea an, doch der Plan misslingt. Nero schickt die Verschwörer in die Verbannung und krönt Poppea zu seiner Kaiserin.

Um dieser Geschichte einen Rahmen zu geben, hat Pia Greven eine an ein Zeppelin erinnernde Konstruktion auf die Drehbühne gestellt. Sie ist gleichsam eine Art Kokon, bietet in ihrem Innern Schutz und Intimität. Doch schon mit Poppeas und Neros intimer Zusammenkunft bekommt diese Hülle Risse, wird nach dem Tod Senecas und dem (Ver-)Fall von Moral, gesellschaftlichen Grenzen und Regeln immer durchsichtiger, bis die enthemmten Kopulationen in aller Öffentlichkeit geschehen. Dem Kokon gegenüberzustehen scheint eine Art Aussichtsturm, auf dem und um den sich Seneca aufhält und der Weitsicht und Klugheit vermitteln soll. Die Kostüme sämtlicher Protagonisten, ob glatzköpfig-futuristisch anmutende Ammen, Soldaten oder Adelige mit wilden weißen Perücken sind alle in Creme und Weiß gehalten, einzelne Accessoires, ein Stück Tüll, eine Feder, weist einzelne den „Verschwörern“ um Ottavia zu – und dieses Accessiore ist gelb wie der Neid. Poppeas Kleid hat eine atemberaubend auslandende Schleppe (ein Extra-Bravo für die Kostüme von Sandra Münchow), die – einmal dürfen Sie raten – so rot ist wie die Liebe. Kokon, Turm, gelb, rot – das klingt nach Symbolik mit dem Holzhammer und doch fügt sich alles so stimmig ineinander, dass es eben gerade nicht mehr bedarf als einer farbigen Feder, um etwas auszusagen. Als Zuschauer wird man wachsam, verfolgt, was passiert im Kokon, was auf dem Turm – und was bedeutet das dann… So gelingt Pataki eine spannende Inszenierung mit traumartigen Bildern, ohne die unaufgeregten Musik Monteverdis auszustechen.

Auch vokal wird da einiges geboten. Die um Nero buhlenden Damen überbieten sich gegenseitig an Ausdruck und vokaler Intensität, Suzanne Jerosme besticht als Poppea mit atemberaubenden Höhenpiani, die wie aus Seide gesponnen scheinen, Katharina Hagopian gibt gekonnt und facettenreich eine Ottavia, die zwischen Liebe, Verzweiflung und Rachedurst schwankt. Counter Owen Willetts ist ein beeindruckender, ausdrucksstarker Ottone mit einem messa di voce, das dem von Suzanne Jerosme in nichts nachsteht. Eva Nesselrath glänzt mit sattem Mezzo mal energisch, mal mitfühlend als Amme Arnalta, Woong-jo Choi ist ein umwerfend überzeugender Tugendwächter Seneca, der seinen ehrfurchtgebietenden Bariton leider nur in der ersten Hälfte des Abends erklingen lassen darf. Von den zahlreichen kleineren Rollen machen vor allem die Drusilla von Jelena Rakic und der fein-timbrierte, nuanciert klingende Tenor von Patricio Arroyo Eindruck, der gleich dreifach als Lucano, Soldat und Famigliare Senecas überzeugen darf. Dass ausgerechnet der Nero von Riccardo Angelo Strano zur Achillesferse der Produktion wird, ist bedauerlich. Das permanente Overacting in dieser ansonsten ungekünstelt wirkenden Inszenierung könnte noch von der Regie gewollt sein, um ihn als Individualisten zu zeigen – ungeplant hingegen sollten die unschönen Schärfen in den Höhen und das unsaubere Aussteuern sein, was im direkten Vergleich mit seinem in dieser Hinsicht perfekt aufgestellten Kollegen Owen Willetts noch stärker zu Tage tritt. Dass ihm zwischendurch einzelne Bögen auch ausgesprochen klangschön gelingen, versöhnt mich zumindest auf halber Linie. Kompromisse bezüglich des vollendeten Klangs muss man hingegen beim Orchester nicht machen.

Das Sinfonieorchester Aachen hat sich Verstärkung von Spezialisten rund um Gerd Amelung geholt, der den Generalbass eingerichtet hat, selbst eines der Cembali spielt und als eine Art Guru gilt, wenn es um historische Aufführungspraxis geht. Und dessen Arbeit mit Musikern und Sängern hat sich hörbar gelohnt. Klar und schlank, schlicht elysisch schön tönt es aus dem Graben und von den Brettern. Vom Cembalo aus leitet der kommissarische GMD Justus Thorau die weniger als 20 Musiker als eine Art Spielertrainer, hält die Fäden versiert und sicher in der Hand und überzeugt dermaßen, dass man sich am Ende des Abends fragt, warum man in Aachen nicht die Gelegenheit beim Schopfe packt und das „kommissarisch“ vor seinem Titel einfach weglässt.

Jochen Rüth 19.10.17

Die Fotos stammen von Wil van Iersel.