Aachen: „Pique Dame“

Premiere am 9.02.2020

Alles außer Trockeneis – Ewa Teilmans gibt alles

Lieber Opernfreund-Freund,

Tschaikowskys vor 130 Jahren uraufgeführte Pique Dame ist seit gestern in Aachen zu erleben. Ewa Teilmans hat sich allerhand einfallen lassen, um die Geschichte nach Alexander Puschkins gleichnamiger Erzählung Leben einzuhauchen. Dabei zündet dann zwar nicht jede Idee, doch gelingen der Regisseurin und dem leistungsstarken Ensemble ein durchweg unterhaltsamer und spannender Opernabend.

Hermanns Wahn wird zum Dreh- und Angelpunkt und ist, wenn es nach Ewa Teilmans geht, schon in dessen Kindheit angelegt. Während der bespielten Ouvertüre wird erzählt, dass er ein Dasein als Kindersoldat fristen muss, während Lisa in ein Märchenbuch vertieft eine behütete Kindheit vergönnt ist. Der an sich öde Einheitsbühnenraum von Elisabeth Pedross ermöglicht ein Spiel auf mehreren Ebene, die obere Hälfte der lindgrünen Kulisse ist beweglich und verengt dann und wann den Raum, allenfalls wird da oder dort eine Treppe postiert, mehr Dekor gönnt Teilmans dem Zuschauer über weite Strecken nicht und erzählt doch mit Hilfe der Protagonisten sehr viel. Das Objekt von Hermanns Begierde, die drei Karten, die unglaubliche Gewinne beim Kartenspiel verheißen, lässt sie fast omnipräsent als drei mit Totenmasken ausstaffierte Tänzer auf der Bühne; sie umgarnen Hermann und locken ihn ins Verderben. Seine Gefühle zu Lisa scheinen anfangs aufrichtig, werden aber im Laufe der Erzählung, in der er immer mehr dem Wahn anheimfällt, zusehends in den Hintergrund gedrängt von seiner Fixierung auf das Geheimnis der titelgebenden Gräfin. Die scheint selbst erotischen Gefallen an dem jungen, ungestümen deutschen Offizier zu finden. Überhaupt ist Erotik ein ambivalentes Thema bei Teilmans: zum einen lässt sie die Gräfin Hermann ihre bestrapsten Beine zeigen, lädt also das Geschehen erotisch auf, um auf der anderen Seite den eindeutig frivolen Gesang Tomskijs im letzten Bild reichlich zahm und mit entschärften Übertiteln zu präsentieren. Ob es grundsätzlich Sinn macht, Lisa ein lesbisches Verhältnis mit Pauline zu unterstellen, sei dahingestellt. In jedem Fall bleibt unklar, ob Lisa, als sie Hermanns Geisteszustand erkennt, statt in die Newa doch eher zu ihrer Geliebten zurück geht.

Auf der anderen Seite überrascht Ewa Teilmans mit der gelungensten Umsetzung des glücklicherweise nicht gestrichenen Schäferspiels, das ich je habe erleben dürfen, um nach der Pause beim überhaupt insgesamt recht groben Licht von Dirk Sarach-Craig eine groteske und unfreiwillig komische, statt irgendwie bedrohliche Version der Szene zu zeigen, in der die tote Gräfin ihr Geheimnis preisgibt. Die wunderbar-variantenreichen Kostüme von Andreas Becker zeigen eindeutig 20. Jahrhundert; allein die Gräfin scheint in ihrer barocken Robe mit ausladendem Unterrock und Gehstock aus der Zeit gefallen. Hinreißende Choreografien von Ken Bridgen wechseln sich mit dümmlichem Chorgezappel ab und so entstehen szenisch viele, viele, fast zu viele Eindrücke unterschiedlicher Qualität und unterschiedlichen Mehrwerts für das Stück und seinen Inhalt. Letztendlich aber bietet die Lesart der Regisseurin beste Musiktheaterunterhaltung, auch wenn dabei nicht jede Idee aufgeht.

Uneingeschränkt hingerissen bin ich von der Leistung Cooper Nolans als Hermann. Er verfügt über einen Tenor dunkler Färbung, trumpft mit bombensicherer Höhe auf und zeichnet die vielen Facetten des Offiziers vom liebenden Underdog zum wahnsinnig gewordenen Spielfanatiker in jeder Sekunde stimmlich wie darstellerisch überzeugend. Lisa stelle ich mir zu Beginn genau so vor, wie Larisa Akbari sie anlegt: hin und hergerissen, fein, zerbrechlich. Allerdings hätte ich mir in der zweiten Hälfte des Abends ein bisschen mehr klangliche Substanz von der an ausdrucksstarken Sängerin erhofft; da wird der farbschöne Sopran der jungen Russin bisweilen aber einfach spitz statt zwischen Verzweiflung und Nachdruck schwankend. Der Brite Ronan Collett zeigt als verstoßener Fürst Jeletzkij seinen Wärme verströmenden Bariton, während die Pauline von Fanny Lustaud mit ihrer satten Tiefe hervorragend zum klaren Sopran von Larisa Akbari passt. Livia Budai ist eine erhabene Gräfin, gestaltet die Erinnerungsarie mit viel Sentiment und glänzt durch unübertroffene Bühnenpräsenz, während Hrólfur Sæmundsson ein packender Tomskij ist und eher draufgängerisch daherkommt.

Die Chöre wurden von Jori Klomp exzellent betreut und singen nicht nur hervorragend, sondern zeigen auch die sinnentleerteste, an Olympia aus Hoffmanns Erzählung erinnernde Choreographie engagiert und mit großem Eifer. Im Graben entblättert Christopher Ward die russische Seele des Werkes, wählt teils gemessene Tempi, interpretiert genau, lässt es an passender Stelle allerdings auch hymnisch tönen und präsentiert so einen wunderbaren Tschaikowsky. Das Publikum ist trotz der Sturmwarnung komplett erschienen und füllt das Theater bis auf den letzten Platz. Begeisterung und großer Jubel machen sich nach Verklingen des letzten Tones breit; schier endlos werden alle Beteiligten mit Standing Ovations und Klatschmarsch gefeiert. Ganz so überwältigt bin ich nun nicht, kann Ihnen die Umsetzung von Tschaikowskys vielleicht schönster Oper am westlichsten Theater Deutschlands aber dennoch guten Gewissens ans Herz legen.

Ihr
Jochen Rüth

10.02.2020

Die Fotos stammen von Will van Iersel.