Aachen: „Tannhäuser“

Premiere am 7.2.2016

Mit der Erotik in Not

Musikalische und dramaturgische Erläuterungen zu einem Werk gehören selbstverständlich zu einem ambitionierten Programmheft. Für die Aachener Neuinszenierung des „Tannhäuser“ hat Wunibald Müller zusätzlich einen Originalbeitrag geschrieben, welcher das zentrale Thema der Oper psychologisch dringlich untermauert. Die Kurzbiografie über den Autor ist aufzufüllen. Der katholische Theologe ist u.a. Leiter des Recollectio-Hauses der Abtei Münsterschwarzach (20 km entfernt von Würzburg gelegen). Diese Einrichtung (ähnlich strukturiert wie die amerikanischen “Houses of Affirmation“) ist eine Hilfsstation für Priester mit „psychischen und psychosexuellen“ Problemen. Wunibald Müller spricht sich für einen breiten kirchlichen Aktionsraum auch für Frauen und Homosexuelle aus, bat weiterhin Papst Franziskus, „Priestertum und Zölibat zu entkoppeln“. Eine durchaus verständliche Forderung angesichts der vielen bekannt gewordenen Übergriffe von Priestern bzw. religiös orientierten Erziehungsberechtigten, wie sie u.a. bei den Regensburger Domspatzen stattfanden.

Mit seinen Forderungen stellt Wunibald Müller freilich keine neuen Thesen auf. Er kann sich u.a. auf den historischen Dichter Horaz berufen, welcher die janusköpfige Natur des Menschen hellsichtig erkannte. Und Hildegard von Bingen war es, welche das Ausleben von Sexualität als definitiv gottgewollt bezeichnete. Bei der katholischen Kirche ist das jedoch noch immer nicht ganz angekommen. Nun soll die hier anstehende Rezension über den Aachener „Tannhäuser“ nicht zu einem religionskritischen Exkurs werden. Aber der Text von Wunibald Müller ist mehr als eine feuilletonistische Beigabe, vertieft vielmehr das Verständnis für die Inszenierung von Mario Corradi.

Bei diesem spielt sich die Handlung nicht in einer Biogasanlage, auch nicht im Rosenmontagstreiben ab, sondern durchgehend in einem von Italo Grassi ganz realistisch gestalteten Kirchenraum. Während der Ouvertüre ist eine Messzeremonie des Priesters Tannhäuser zu sehen, von Gläubigen mit demutsvoller Andacht verfolgt. Wenn die Musik vom Pilgerchor in die irrlichternde Venusberg-Atmosphäre umschwenkt, ändert sich die Bühnenbeleuchtung, den gedrehten Säulen entsteigen laszive Mädchengestalten, welche Tannhäuser umgarnen. Eine Engelsgestalt schwebt vom Schnürboden herab, greift sich Tannhäusers Sutane, und Venus schält sich auf dem Altartisch aus dem Gewand der Heiligen Maria heraus und mutiert zur Sexgöttin Marylin Monroe; der Beichtstuhl wandelt sich zur Lustgrotte. Eine zwingende Bildidee bis hin zur Szene, wo Tannhäuser zusammenbricht und auf einen Bahre weggetragen wird.

Doch kurze Zeit später ist er wieder da, denn es steht ja die Begegnung mit dem Landgrafen (in Aachen ein Prior) und seiner Entourage an. Die Herren sind überrascht, den entfernt Geglaubten wieder vor sich zu sehen. Auch der Zuschauer ist überrascht, denn wie konnte Tannhäuser zuvor ein priesterliches Amt ausüben? Oder war auch das bereits ein Moment der Fiktion?

Zu solchen Ungereimtheiten gesellen sich – die Handlung ist bei Corradi in den als prüde geltenden fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts angesiedelt – Reibungen mit dem Librettotext. Ein markantes Beispiel unter vielen: „Prior“ Hermann wird vom Chor permanent als Landgraf angesungen. Das lässt sich nun einmal nicht überhören, zumal bei deutschem Text. Sinnfällig hingegen: aus dem Sängerkrieg wird ein Kirchenritual. Ein Einladungsplakat an das Volk hätte das vielleicht noch stärker verdeutlicht. Andererseits sind die Gläubigen in Aachen ein steifer, bigotter Haufen, da kommt Volksfeststimmung erst gar nicht auf.

Die Pilger im ersten und dritten Akt: keine mittelalterliche Büßerkleidung, sondern normale Anzüge, dazu Rucksäcke bzw. Köfferchen. So begibt man sich heutzutage auf Läuterungswallfahrt (Santiago de Compostela !). Eine durchaus stimmige Analogie. Der entsetzlich schülerhafte Finalauftritt des Chores (Aufstellung, zu Befehl) entwertet den positiven Eindruck dann leider erheblich.

Die Symbiose Heilige/Hure bei den Protagonistinnen der Oper (Elisabeth/Venus) wird gelegentlich durch die Besetzung mit einer Sängerin zu verdeutlichen versucht. In Aachen reichen Grassis Gewänder aus: hellblau für Elisabeth, weiß für Venus. Die Glamour-Frau aus dem Hörselberg erhält im zweiten Akt übrigens noch einige (überzeugende) stumme Auftritte. Die bebrillte Elisabeth ist hingegen ausgesprochen bieder kostümiert. Was Tannhäuser an dieser engelhaften Frau auch erotisch anzieht, erschließt sich nicht. Eine reine Betschwester (mit Rosenkranz) ist sie allerdings auch in Aachen nicht. Man spürt bei ihr durchaus unterdrückte Gefühle. Wenn sie ihrem „Beichtvater“ Tannhäuser verzweifelt fragt „Heinrich, was tatet Ihr mir an?“, muss man schon ganz gehörig schlucken. Nun ist Linda Ballova trotz ihres kraftvollen Soprans eine sehr innige Elisabeth, besonders beim Gebet. Dass Wolfram hier in ein heftiges Weinen ausbricht, ist für den Zuhörer nachvollziehbar. Nach dieser Szene geleitet sie der „Engel“ aus dem ersten Akt in die mystischen Sphären des Jenseits.

Das ganze lange Vorspiel zum dritte Aufzug (Tannhäusers Pilgerfahrt) wird von Filmaufnahmen begleitet: der Papst (man könnte seinen Namen fast nennen) hält Hof, das Volk drängt sich auf dem Petersplatz. Der Pomp dieser Veranstaltung wirkt fragwürdig, übersättigt. Die stereotypen Segnungsgesten des katholischen Oberhauptes ahmt Tannhäuser in seiner Romerzählung mit Sarkasmus nach. Mario Corradis Inszenierung löst nicht sämtliche interpretatorischen Probleme, aber sie macht viele Angebote, regt vor allem zum Nachdenken an. Insofern hatte der geradezu frenetische Premierenbeifall seine Berechtigung.

Beim Aachener GMD Kazem Abdullah sowieso. Wie er Wagners Musik seiden-samtig wogen und schillern lässt, Pianopassagen und Forteausbrüchen mit seinem fabelhaften Orchester gleichermaßen gerecht wird, ist einfach großartig. Auch der mächtig erweiterte Chor leistet Außerordentliches

Alle Solopartien sind aus dem Ensemble besetzt, auch wenn Chris Lysack die Titelpartie erst in Folgeaufführungen übernehmen wird. In der Premiere sang Paul Mcnamara den Tannhäuser. Kein „schwerer“ Held, mehr ein Zwischenfach-Tenor mit relativ heller, schlanker Stimme, aber genügend durchschlagskräftig, die vokalen Hürden im zweiten Akt souverän meisternd. Auch darstellerisch überzeugt er. Hier wirkt Hrólfur Saemundsson als Wolfram eher etwas linkisch, obwohl er vokal durchaus vermittelt, welche Emotionen in diesem Priester/Minnesänger zur Eruption drängen. Der maskuline Legato-Bariton des Isländers verhindert, dass das Lied an den Abendstern zu einer schmalzigen Meditation verweichlicht wird. Mit machtvollem, aber genügend differenzierendem Bass trumpft Woong-Jo Choi („Hermann“) auf. Von Patricio Arroyo (Walter von der Vogelweide) und Pawel Lawreszuk (Biterolf) ist Verlässliches zu hören, die Stimmen von John Zuckerman (Heinrich der Schreiber) und Benjamin Werth (Reinmar von Zweter) bleiben im Ensembleklang zwangsläufig verborgen. Mit verführerischem Mezzo prägt Sanja Radisic die Venus, einen sopranlichten Hirten (in Aachen: Ministrant) gibt Laura Lietzmann.

Christoph Zimmermann 8.2.16

Bilder (c) Theater Aachen