Wien: „Lulu“, Alban Berg (zweite Besprechung)

Alban Bergs Oper „Lulu“ in der zweiaktigen Fassung, ergänzt um die Sätze Variationen und Adagio aus der Lulu-Suite. Nach Frank Wedekind ist diese Lulu „das wahre Tier, das wilde, schöne Tier“, welche den Komponisten zur ersten nach der Zwölftontechnik komponierten Oper inspirierte. Da die Oper ein Torso geblieben war, folgten bei der Uraufführung am 2. Juni 1937 am Opernhaus Zürich auf die ersten beiden Akte eine Pantomime zur Musik der beiden Sätze der Lulu-Suite. Und ebenso ging auch die von den Kap Verdischen Inseln stammende Regisseurin, Choreografin und Kostümbildnerin Marlene Monteiro Freitas bei ihrer ersten Opernregie vor. Sie positionierte den 1985 in Nantes geborenen französischen Dirigenten Maxime Pascal vor das auf einer Tribüne sitzende ORF Radio-Symphonieorchester Wien. Die an der Handlung beteiligten Personen agierten allesamt vor dieser Tribüne, was den Sängern und den Sängerinnen durchaus zugutekam. Alban Berg sah für den Wendepunkt der Oper zwischen den beiden Szenen des 2. Aktes einen Stummfilm vor, der das Geschehen um Lulus Einlieferung ins Gefängnis und ihre Befreiung durch die lesbische Gräfin Geschwitz zeigt. Die dabei gespielte Verwandlungsmusik verdeutlicht als sogenanntes Palindrom den spiegelbildlichen Aufbau der Handlung mit Auf- und Abstieg der Titelheldin. Die Regisseurin verwendet allerdings keinen Stummfilm, sondern lässt diese Ereignisse Alwa von Lulu schildern.

(c) Monika Rittershaus

Beide fliehen. Danach folgte eine wenig aufschlussreiche Pantomime einer auf Knien langsam dahinrobbenden Lulu mit Maske, die bedeutungsschwanger in Zeitlupentempo von einem schwarz gekleideten Mann mit spanischem Sombrero, möglicherweise Jack the Ripper, zur Rampe geleitet wird… Dem singenden Personal stellte die Regisseurin ein performendes Team als Spiegelung der Emotionen der Protagonisten gegenüber, welches durch seine fesselnden Bewegungen die Partitur kongenial kommentierte. Das Bühnenbild besteht lediglich aus einigen Versatzstücken, wie Bänken, drei Redepulten an der linken Bühnenseite, einem Siegerpodest, das umgedreht als Futtertrog für die von den Tanzenden angedeuteten Tiere dient. Die Geschichte der Oper interessiert die Regisseurin weniger, sie setzt diese – und das hat sie mit Hausherrn Stefan Herheim gemein – einfach voraus. Wen Oper interessiert, der wird sich heute im Zeitalter des Internets vorab Informationen über deren Handlung besorgen (und hoffentlich nicht erst während der Aufführung)! Zudem existieren auch von den meisten Opern Gesamtaufnahmen auf YouTube oder Opera on Video. Und so wirkt ihre Interpretation wie eine semikonzertante Aufführung mit reduziertester Interaktion. Geleitet vom Zirkus-Gedanken des Prologs kommentieren die acht Pantomimen die atmosphärischen Gedanken der Musik und spiegeln zugleich deren Symmetrien. Mit einer auf kleine Bewegungen reduzierten Choreografie erzielt die Regisseurin dadurch höchste Wirkung und kommt formal gesehen so den strengen Zwölftonreihen des Komponisten recht nahe. Sie kehrt das Abgrundtiefe der handelnden Figuren nach außen, zeigt sie als Kreaturen mit weit aufgerissenen Augen, gequält und geschunden.

(c) Monika Rittershaus

Alle Mitwirkenden tragen blaue Sneakers, blaue Strümpfe und Handschuhe. Die Männer tragen zunächst elegante gestreifte schwarze Twillanzüge deren sie sich im Verlauf des Abends entledigen, wodurch ihr Innerstes nach außen gekehrt wird. Lulu trägt eine schwarze Hose mit weißer Bluse, die Geschwitz ist passend ebenfalls als Mann in Anzug gekleidet. Die Figuren bewegen sich wie Marionetten bzw. Roboter in innerlicher Distanz zu sich selbst. Als Clown Nasen aufgestülpte rote Trinkbecher erinnern an die Verortung des Geschehens in der Welt des Zirkus. Die Sängerdarstellergilde war erlesen besetzt. Vera-Lotte Boecker in der Titelpartie beeindruckte als femme fatale mit äußerster Bühnenpräsenz und stimmlicher Präzision bis in die hohen Töne ihres Parts. Mit zunächst aufgesteckten Haaren verströmt sie zu Beginn Business Woman Flair, im zweiten Akt lässt sie dann mit geöffneten Haaren etwas Erotik dieser Titelheldin erahnen. Der aus Kansas City stammende US-amerikanische Tenor Cameron Becker überzeugte durch akzentfreie Textverständliche als unbekümmerter Maler. Bo Skovhus stellte mit seinem prächtig geführten Bariton in der Rolle des Dr. Schön unter Beweis wie sehr er auch mit sparsamsten Mitteln dieser Lulu verfallen ist. Bass Kurt Rydl gefiel als missmutiger Schigolch, der Vater Lulus. Der litauische Tenor Edgaras Montvidas gab einen von Leid geplagten Alwa mit starkem Akzent. Mit der schwedischen Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter als Gräfin Geschwitz gab es ein erfreuliches und stimmlich beeindruckendes Wiedersehen.

(c) Monika Rittershaus

Die kleineren Partien waren bei der Mezzosopranistin Katrin Wundsam als Theatergarderobiere und Gymnasiast, Bass Martin Summer als stimmgewaltiger Tierbändiger und Athlet, Tenor Paul Kaufmann als Prinz und Kammerdiener, Bassbariton Andreas Jankowitsch als Theaterdirektor und dem Schauspieler und Regisseur Franz Tscherne als Medizinalrat bestens aufgehoben. Als stumme Pantomimen konnten Francisco Rolo, Henri „Cookie“ Lesguillier, Ina Wojdyła, Joãozinho da Costa, Kyle Scheurich, Nina Van der Pyl, Rui Paixão und Tomás Moital bei ihren Verrenkungen bewundert werden. Die Stimmen des singenden Personals wurden durch Mikrophone verstärkt. Der Dirigent Maxime Pascal bemühte sich gemeinsam mit dem Radio-Symphonieorchesters Wien den Klangfarbenreichtum der Partitur mit herauszuarbeiten, setzte aber für meinen Begriff zu wenig einprägsame Akzente. Das Publikum zeigte sich an diesem Abend äußerst wohlwollend und spendete allen Mitwirkenden großzügigen Applaus sowie verdiente Bravorufe für Vera-Lotte Boecker als Lulu.

Harald Lacina 3. Juni 2023


 Lulu

Alban Berg

MusikTheater an der Wien im Museumsquartier Halle E

Besuchte Aufführung: 4. Juni 2023

Premiere am 27.5.2023

Inszenierung, Choreografie und Kostüme: Marlene Monteiro Freitas

Bühne: Yannick Fouassier

Musikalische Leitung: Maxime Pascal