Basel: „Das Versprechen“, Friedrich Dürrenmatt

Requiem auf den Kriminalroman

Was verspricht ein Abend mit Dürrenmatts Versprechen? Gähnende Langeweile oder ein spannendes Erlebnis – das ist hier die Frage? Nach dem Film Es geschah am hellichten Tag mit einem Staraufgebot wie Heinz Rühmann, Gerd Fröbe, Siegfried Lowitz und vielen anderen ist diese Frage durchaus berechtigt.

Die Antwort jedoch ist schnell gegeben: Die Regiearbeit von Nora Schlocker ist absolute Spitze. Die Regisseurin schafft es, den Roman auf der Bühne lebendig zu machen, das Werk Dürrenmatts zwingend zu visualisieren und die Geschichte verständlich zu erzählen. Ihre Sichtweise auf die Problematik der Gewalt, ob gegen Kinderoder die Gewalt der Polizei, aber auch die Ohnmacht der Justiz gegenüber ebendieser Gewalt, wird vom gesamten Team überzeugend interpretiert.

Diese Personenführung hat es in sich: Neben den Schauspielern des Theater Basel tummeln sich auf der Bühne auch Mitglieder der Basler Mädchenkantorei und der Basler Knabenkantorei. Diese sind nicht nur Statisten, sondern wesentlich Mitspieler im ganzen Stück. Beide Chöre sind auch für die gesamte Musik verantwortlich. Sie singen, respektive vokalisieren live und als Einspielung den Soundtrack zum Versprechen. Dies tun sie mit einer bewundernswerten Professionalität. Die Musik wurde von Marcel Blatti geschrieben. Die Einstudierung der Mädchenkantorei besorgte Marina Niedel und Oliver Rudin jene der Knabenkantorei.

Warum die permanente Anwesenheit der Kinder auf der Bühne? Dazu die Regisseurin: Ich hatte von Anfang an eine grosse Sehnsucht, mit dem Stoff unmittelbar, schrankenlos die Zuschauer zu tangieren, zu berühren. Und den Fokus auf die Angst zu legen. Da war klar, dass wir, damit die Fallhöhe des Abends stimmt, echte Kinder auf der Bühne brauchen. Was ist, wenn in einem Wimmelbild von zwanzig Kindern auf dem Spielplatz mein eigenes plötzlich fehlt?
Dann haben wir die Dimension der Kinder noch insofern erweitert, als wir uns für eine Zusammenarbeit mit der Mädchen- und Knabenkantorei Basel entschieden haben. Einerseits, um dadurch eine wundervoll komplexe musikalische Ebene schaffen zu können – die Kinder tragen diesen Abend musikalisch allein. Zudem steht ihr Klang aber auch für die Stimme der Kinder im Allgemeinen, das heisst, immer wenn wir die Musik hören, haben wir auf eine Art auch den Blick der Kinder auf das Geschehen, ihre Perspektive, ihre Zeugenschaft mit dabei.

Für das Bühnenbild und die Kostüme verantwortlich zeichnet Marie Roth. Bühnentechnisch stellt sich für die Frage, ob die Glasscheiben wirklich nötig sind. Diese bedingen nämlich wiederum den Einsatz von Mikrophonen. Gab es keine andere Möglichkeit die Ideen der Regisseurin zu verwirklichen?

Da sehr viele Szenen vor der Bühnentrennung spielen, fällt der qualitative Unterschied in der sprachlich schauspielerischen Leistung der ProtagonistInnen auf. Die Subtilität der Expression geht über die Mikroportanlage zu einem grossen Teil verloren. Dazu kommt, dass die Ortung des Schauspielers nicht mehr möglich ist. Alles kommt aus einem fest montiertem Lautsprecher.

Eine kurze Szene ist für dieses Phänomen typisch: Matthäi und Ursula unterhalten sich extrem links auf der Bühne, ihr Gespräch jedoch kommt hoch oben aus der Mitte. Das stört. Für mich ist es wichtig, dass der optische Eindruck mit der akustischen Ortung übereinstimmt, nicht nur im Sprechtheater! Wobei ich betonen muss, dass Frau Schlocker den Einsatz der Mikrophone auf das durch den Bühnenaufbau bedingte Minimum beschränkt hatte,

Ein Höhepunkt des Abends war der Abschluss, die Auflösung des Requiems, hervorragend gespielt von Carina Braunschmidt; hr Monolog gehört zum Besten, was ich in letzter Zeit im Sprechtheater erleben konnte. Dazu kommt, dass Frau Braunschmidt neben dieser Rolle noch vier andere Parts spielt: Gritlis Mutter, die Lehrerin, eine Reinigungsfachkraft und Frau Heller.
Eine spezielle Erwähnung verdienen die Kinderrollen Das ermordete Gritli wird gespielt von Ellen Reichen. Diese Rolle verlangt eine grosse Körperbeherrschung. Ellen meisterte diese Schwierigkeit hervorragend. Die Partie der Ursula, als Anführerin und Gritlis beste Freundin, gab Muriel Becher.

Hervorragend die kindliche Schauspielkunst von Annemarie, Frau Hellers Tochter. Auf der Bühne zu sehen war Livia Jost. Ihre Mimik, ihre Körpersprache, ihre Sprache und ihr Verständnis für die Dramaturgie können nur als professionell bezeichnet werden. Frau Schlockers Personenführung dieser Rolle, der Rolle des Köders für den Mörder, gehört in die absolute Spitzenklass e.

Michael Wächter als Kommissär Matthäi interpretiert seine Rolle extrem introvertiert und eher diskret, aber sehr intensiv, mit viel Emotion und Körpereinsatz.
Als Kommandantin der Kapo Zürich sehen wir Cathrin Störmer mit hervorragender Diktion, einer Sprachverständlichkeit welche im modernen Sprechtheater leider nicht mehr immer zu finden ist. Etwas farblos erscheint Urs Jucker als Wachtmeister Henzi in seinem ersten Kriminalfall.

Diese Farblosigkeit besser Unsicherheit muss man dem auf der Bühne starken Eindruck der Polizeikommandantin und des Kommissars Mathei zuschreiben. Dies wiederum bedeutet, dass Jucker den Henzi richtig interpretiert. Überzeugend spielt Steffen Höld den Hausierer von Gunten; seine Reaktion auf das zwanzigstündige Verhör ohne Anwalt, das aus der Hilflosigkeit entstandenes Geständnis und sein Selbstmord wirken politisch doch sehr aktuell.
Erwähnensert noch die ausgezeichnete Dramaturgie von Carmen Bach und das Lichtdesign von Cornelius Hunziker. Das zahlreich erschienene, zum grossen Teil junge Publikum, sorgte für ein fast ausverkauftes Schauspielhaus. Alle bedankten sich für die tolle Leistung des gesamten Teams mit langanhaltendem, stürmischem Applaus. Ein mehr als gelungender Abend.

Peter Heuberger Basel

Fotos © Sandra Then

Unser OPERNFREUND Filmtipp dazu

Eine wirkliche High-End Besetzung bieten beide Filme – wobei mir persönlich die aktuellere (Farbe) Version von Sean Penn aus dem Jahre 2001 auch sehr gut gefällt. Wer Dürrenmatt mag, sollte sich unbedingt beide Filme anschauen.
P.B.