Premiere: 10.09.2017, besuchte Vorstellung: 17.09.2017
Wenn Erwachsene mit Puppen spielen…
Wenn Erwachsene mit Puppen spielen, ist das Ergebnis oft nicht für Kinderaugen geeignet, so auch im Fall des Musicals „Avenue Q“ welches derzeit im Theater Bielefeld aufgeführt wird. Daher gibt das Theater hier auch eine Besucherempfehlung ab 16 Jahre heraus. Bereits in den vergangenen Jahren brachte das Haus im Bereich selten gespielter Musicals eine beachtliche Qualität auf die Bühne und dies gelingt auch mit der diesjährigen Spielzeit-Premiere wieder.
Die „Avenue Q“ befindet sich am Rande von Manhattan, symbolisch für die Bewohner, die ebenfalls eher am Rande der Gesellschaft zu finden sind. Und doch stehen sie alle mitten im Leben mit ihren zahlreichen Problemen, sei es die drohende Arbeitslosigkeit nach dem erfolgreichen Schulabschluss, die schlechten Zukunftsperspektiven eines unbekannten Künstlers (der zudem nicht sehr talentiert ist), die Angst vor dem Comming-Out eines Hausbewohners oder die Verzweiflung einer netten jungen Dame darüber, niemals den passenden Mann fürs Leben zu finden. Und dann wohnt hier auch noch Daniel Küblböck, einst ein „TV-Star“ des Casting-Zeitalters der nach einem Aufenthalt im Dschungel dann aber auch schnell wieder vergessen wurde, so dass er nun als Hausmeister sein Geld verdienen muss.
Robert Lopez und Jeff Marx (Musik und Gesangstexte) schufen mit diesem Musical ein durchaus unterhaltsames Werk zu dem Jeff Whitty das Buch beisteuerte. Hierbei bewegt man sich bewusst an der Grenze des politisch korrekten und stellt die Fragen nach Rassismus, Obdachlosigkeit, Homosexualität und dem Konsum von Pornos im Internet entsprechend provokant, so dass die ein oder andere Szene durchaus auch mal etwas heftiger ausfallen mag auf der Bühne. Auch die ein oder andere sexuelle Handlung ist hier bei den Puppen angesagt. Alles in allem wird es keineswegs „so schlimm“ wie man vielleicht befürchten könnte. Im Gegenteil, das Musical schafft die Gradwanderung bestens und lässt die Figuren (fast durchweg) sehr sympathisch erscheinen und zeigt hierbei fast nebenbei, wie man trotz aller Widrigkeiten, dass Beste aus seinem Leben machen kann, selbst wenn es auf den ersten Blick „verkorkst“ erscheinen mag.
Angelehnt an die Sesamstraße sind die Bewohner der „Avenue Q“ weitestgehend Puppen, wie z. B. die Kindergärtnerin Kate Monster, die von Ihrer Monsterschule träumt oder Princeton, der frisch von der Highschool nach der Bestimmung seines Lebens sucht. Die Wohngemeinschaft aus Nicky und Rod erinnert sicher nicht ohne Absicht an die allseits bekannten Ernie und Bert und Trekkie Monster (nicht verwandt oder verschwägert mit Kate) konsumiert statt Kekse lieber andere Dinge im Überfluss. Aber auch Brian und seine zukünftige Gattin Christmas Eve, eine Therapeutin mit japanischem Migrationshintergrund bewohnen als „echte Menschen“ das Haus in der Avenue. Ebenso der bereits erwähnte Hausmeister Küblböck, dargestellt von Norbert Kohler.
Die Musik ist angelehnt an die großen Broadway-Stücke, verknüpft mit einem typischen Sound, der an bekannte Puppenserien erinnert. Das geht gut ins Ohr, bleibt aber wenig hängen. Doch dies ist keinesfalls schlimm, zielt die Musik auch oft auf eine eigene Komik ab, die sich eben genau aus der Verbindung der großen Broadway-Nummer mit einem unerwarteten Text ergibt. So wird dem Zuschauer beispielsweise in bester Sesamstraßen-Erklär-Mentalität vorgetragen, wie sehr der tägliche Rassismus in jedem von uns steckt. Und wenn es ganz am Ende heißt „Für einen Moment“, dann ist auch dies auch eine schöne Anspielung darauf, dass man im Theater auch durchaus mal den Moment genießen darf, ohne beim Verlassen des Theaters noch stundenlag über das eben erlebte nachdenken zu müssen oder die Musik die nächsten Jahre im Gedächtnis bleiben müsste. Gespielt wird in Bielefeld übrigens die gelungene deutsche Übersetzung von Dominik Flaschka (Dialoge) und Roman Riklin (Songtexte).
Die Band unter der musikalischen Leitung von William Ward Murta spielt schwungvoll und glücklicherweise nicht zu laut. Den Darstellern gelingt es wunderbar trotz teilweise deutlich angewandter Puppenstimmen (teilweise auch in wechselnden Rollen) passend zu singen, alle Töne zu treffen und die Puppen somit wahrlich mit Leben zu füllen. Hierzu trägt auch Puppentrainer Eike Schmidt bei, der den 5 ausgebildeten Musicaldarstellern, dass Puppenspiel in der Art beibrachte, dass man meinen könnte, sie hätte nie etwas anderes gelernt. Besonders bleibenden Eindruck hinterlassen hierbei Stefanie Köhm als Kate Monster und Thomas Klotz als Princeton und Rod. Auch alle anderen Darsteller agieren rollendeckend und ergeben ein sehr homogenes Ensemble, bei dem dann eine Puppe auch mal von mehreren Leuten gleichzeitig gespielt wird, was teilweise erstaunliche Effekte ermöglicht.
Die Regie von Nick Westbrock orientiert sich in erster Linie an einer möglichst authentischen Umsetzung typischer Sesamstraßen-Elemente, was hier sehr gut gelingt. Wunderbar wie Menschen und Puppen hier verschmelzen und wie der Zuschauer schnell in die ganz eigene Welt der „Avenue Q“ eintaucht. Aber auch eine kleine Anspielung an Wickie wird der Zuschauer in der Inszenierung finden können. Die Bühne von Udo Herbster, der sich auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet, besteht aus einem großen Wohnhaus, in dem sich einige Zimmer nach außen aufklappen lassen. Die Gesamtoptik orientiert sich auch hier am bekannten Vorbild. Dazu gibt es eine kleine Videowand, die in einigen wenigen Szenen geschickt eingesetzt wird. Besonders schön, wenn dem Zuschauer hier durch einen Einspieler erklärt wird, was die „Bestimmung“ ist.
Sicherlich ist „Avenue Q“ nun kein großer Meilenstein des Musiktheaters, dennoch ist die Produktion in Bielefeld in allen Punkten durchaus gelungen. Leider war das Theater aber in der besuchten Vorstellung am Sonntagnachmittag nur sehr spärlich besetzt. Hierunter auch viele Abonnenten, die zu Beginn teilweise etwas irritiert wirkten, am Ende aber weitestgehend fast schon enthusiastisch in den berechtigen Applaus für die Darsteller einstimmten. In dieser Qualität hat „Avenue Q“ auf jeden Fall ein deutlich größeres Publikum verdient.
Markus Lamers, 20.09.2017
Fotos: © Sarah Jonek