Bielefeld: „Der Kaufmann von Venedig“

Reynaldo Hahn

Premiere am 28.04.2017

Ausgegrabener Stilmix

Lieber Opernfreund-Freund,

der in Argentinien geborene Reynaldo Hahn ist dem Musikfreund heutzutage wohl allenfalls als Komponist schwülstig-süßer Lieder ein Begriff, aus dessen Feder neben einem aufregenden Violin- auch ein begeisterndes Klavierkonzert stammt, die beide aber auf den Konzertpodien kaum noch zur Aufführung gelangen. Gleichwohl hat er mehrere Opern geschrieben, die letzteres Schicksal teilen. So kommt es, dass gestern mehr als 80 Jahre nach der Pariser Uraufführung seine Adaption von Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ am Stadttheater Bielefeld ihre deutsche Erstaufführung erlebte.

Die ebenso wohlhabende wie gutaussehende Portia darf nur denjenigen heiraten, der aus drei Kästchen aus Gold, Silber und Blei dasjenige auswählt, das ihr Bild enthält. Um sich dieser Prüfung zu stellen, benötigt der junge Venezianer Bassanio Geld. Sein wohlhabender Freund Antonio will es ihm leihen und nimmt, da sein Kapital gerade auf mehreren Schiffsladungen gebunden ist, beim allseits verhassten jüdischen Kaufmann Shylock einen Kredit zu kruden Konditionen auf: Kann er die geliehene Summe nicht am geforderten Tag zurückzahlen, verpflichtet er sich, sich vom Geldverleiher ein Pfund des eigenen Fleisches herausschneiden zu lassen. Bassanio will sich, begleitet von Gratiano, der Portias Dienerin Nérissa liebt, in Belmont der Probe stellen, doch Portia, die seine Gefühle erwidert, befürchtet, dass er falsch wählen könnte, und so verleben die beiden vorerst einige Monate im Glück wilder Ehe. Schließlich trifft Bassanio seine, selbstredend richtige, Wahl, doch Antonios Vermögen ist dank mehrerer Schiffsunglücke verloren, so dass er den Betrag nicht fristgerecht zurückzahlen kann. Da nützt auch Portias Reichtum nichts, der Gläubiger besteht auf der Erfüllung des grausamen Vertrages. Der Doge soll den Fall entscheiden und erbittet sich einen Rat vom Rechtsgelehrten Bellario. Der schickt aber angeblich eine Vertreterin, die verkleidete Portia. Die legt dar, dass Shylock zwar Anrecht auf das Fleisch des Schuldners hat, jedoch nach venezianischem Recht keinen Tropfen Blut vergießen darf, da der Vertrag das nicht vorsieht. Shylock muss sein Vermögen seinem verhassten Schwiegersohn vermachen, der zusammen mit Shylocks Tochter Jessica ebenso wie Gratiano und Nérissa und natürlich Bassanio und Portia ein Hochlied auf die Liebe singen.

Dieser Mix aus Komödie und Tragödie wird von Klaus Hemmerle als Schauspiel am Theater inszeniert. Die Bühne von Andreas Wilkens besteht im Wesentlichen aus allzu offenen Baugerüsten, die zwar immer wieder durch ideenreiche Details wie zu Beginn des Abends oder während der Kästchenprobe im zweiten Akt begeistern können, doch über weite Teile wenig Stimmung erzeugen. Ab der Gerichtsszene im dritten Akt siegt endgültig das uninspirierte Herumgestehe in grauem Businessoutfit, das Yvonne Forster entworfen hat, so dass es dem ausgebildeten Schauspieler Hemmerle weder gelingt, die Oper als veritable Komödie zu inszenieren, noch ihre tragischen Anteile so ausreichend zu betonen, dass sie letztendlich zur Tragödie wird. Der im Text immer wieder offen angesprochene Konflikt zwischen jüdischen Kaufleuten und christlichen Venezianern bleibt hier dramaturgisch weitgehend ungenutzt. Dabei hätte dieser Aspekt zusammen mit der Biografie des Komponisten, den eine Liebesbeziehung mit Marcel Proust verband und der Paris 1940 aufgrund seiner jüdischen Abstammung verlassen musste, durchaus Anhaltspunkte dafür gegeben, den Abend szenisch ein wenig spannender zu gestalten – nicht dass ich mir jetzt partout eine Verlegung in die Zeit des Nationalsozialismus gewünscht hätte. Die „Reise nach Jerusalem“, die während der Ouvertüre von den Darstellern zur Rollenverteilung gespielt wird und die erstmals in Deutschland erklingende Melodie ärgerlicherweise immer wieder unterbricht, und ein aufgemalter Davidstern am Ende der Gerichtsszene reichen da als sinnstiftend-überzeugende Anspielungen nicht aus.

Reynaldo Hahn, Jahrgang 1874, war schon früh mit seiner baskischen Mutter und seinem deutschen Vater mit jüdischen Wurzeln von Venezuela nach Paris übersiedelt und hatte sich in den dortigen Salons einen Namen als musikalisches Wunderkind gemacht. Zu seinen Lehrern gehörte neben Charles Gounod auch Jules Massenet – und das hört man dem Werk aus dem Jahr 1935 auch an. Als hätte Massenet ein wenig zu viel Puccini gehört, klingt es da, so schwelgerisch sind die Melodien, die sich in den komödiantischen Anteilen der Geschichte entfalten. Gewürzt mit einer guten Prise filmmusikalischer Klänge und bisweilen fast schlagerhaft anmutenden Arien, scheint dieses Werk beinahe zu spät entstanden mit seinem immerwährenden Wohlklang – und das mehr als 25 Jahre nach der Uraufführung der „Elektra“. Allzu selten traut sich Hahn an ein wenig Schroffheit, zeigt diese allenfalls in den tragischen Momenten, wie im großartigen Shylock-Monolog im dritten Akt, und präsentiert so über weite Teile fast operettenhaft anmutende Musik.

Nahezu ausnahmslos hauseigene Kräfte stemmen dieses nicht einfache Werk. Bjørn Waag als einer von nur zwei Gästen legt den Shylock mit seinem klangschönen Bariton eher als tragische Gestalt, denn als dämonischen Kaufmann an. Der Stimme des Norwegers fehlt leider jegliche dunkel-abgründige Farbe, um die Figur als abgrundtiefen Bösewicht bis zur letzten Konsequenz glaubhaft darzustellen. Da weiß Mark Adler als Gratiano mit gradlinigem Tenor schon eher zu überzeugen und bildet mit der wunderbaren Nohad Becker, die gekonnt mit den Farben ihres warmen Mezzos spielt, eines der drei Liebespaare des Abends. Die Jessica von Nienke Otten und der über eine feine Höhe verfügende Lianghua Gong, der neben dem Lorenzo auch den Prinzen von Aragon in idealer Weise verkörpert, begeistern ebenso, wie Sarah Kuffner als nuancenreich auftrumpfende Portia mit ausdrucksstarkem Sopran und Frank Dolphin Wong mit schmachtend-schmelzendem Bariton. Moon Soo Park verfügt als Antonio über so viel stimmliches Gewicht, dass ich ihn mir streckenweise als Shylock gewünscht hätte und aus der großen Anzahl kleiner Rollen sticht der Gerichtsdiener von Paata Tsivtsivadze mit eindrucksvollem Bassbariton und darüber hinaus präsentem Spiel hervor. Überhaupt überzeugen die darstellerischen Qualitäten der Sänger gestern eher selten, was gewiss auch der Premierennervosität geschuldet sein mag. Von den Hauptrollen weiß lediglich Sarah Kuffner vom ersten Moment an auch auf diesem Gebiet zu überzeugen.

Der von Hagen Enke einstudierte Bielefelder Opernchor meistert den überschaubaren Part mehr als solide, während Pawel Poplawski im Graben der Spagat zwischen operettenhafter Unterhaltungsmusik im besten Wortsinne, spätromantischen Melodiewogen und gewollter Sprödigkeit bravourös gelingt.

Das Bielefelder Stadttheater ist im Parkett voll besetzt, im Rang bleiben bei der gestrigen Premiere rund die Hälfte der Plätze leer – angesichts einer solchen Rarität eine Schande. Auch wenn mich die Produktion nicht in allen Belangen hat überzeugen können, ist das Werk doch durchaus hörens- und sehenswert und lenkt den Blick des Publikums, man möchte sagen „endlich“, auf einen hierzulande so vergessenen wie unterschätzten Komponisten.

Ihr Jochen Rüth / 29.04.2017

Die Fotos stammen von Bettina Stöß.