Bielefeld: „Il trittico“

Besuchte Premiere am 29. April 2016

Für den Erfolg der Bielefelder Inszenierung zeichnen alle Beteiligten gleichermaßen verantwortlich, die Sängerinnen und Sänger, das Orchester, der Chor, die Bühnenbildner und -ausstatter, die Beleuchter. Und im beträchtlichen Maße die Regie. Es ist lange her, dass ich eine so klar geführte, dem Original nicht widersprechende Inszenierung gesehen habe. Voll verdient also der lang anhaltende Applaus am Premierenabend.

Der junge Regisseur Maximilian von Mayenburg lässt nicht mal den Gedanken zu, Puccinis geniales Verständnis für das Musiktheater anzukratzen, versucht nicht, mit eigenen Einfällen das Werk zu reparieren. Gar zu zerstören. Natürlich setzt er seine Ideen ein. Geht auf Distanz zu Aufführungsarten aus der Puccini-Zeit, distanziert sich aber auch von Experimenten des aggressiven Regietheaters. Oszilliert vorsichtig zwischen Verismo und Comedia dell ‘arte, mit vollem Respekt vor dem Original. Und geht zugleich konform mit den von der Theorie immer mit neuen Erkenntnissen hervorgehobenen Leitlinien des Triptychons, Sünde – Schuld – Betrug um. Oder doch näher mit der Frage: Wie kann man schuld an etwas sein, das man nicht verschuldet hat.

Wenn in Il Tabarro jede der Dramatis Personae – bis auf einen nur kurzen Ausbruch der erotischen Leidenschaft – introvertiert ihre Schuld in sich trägt… Aber bitte, bitte zurück: Was für eine Schuld? Spätestens seit der Uraufführung von Il Trittico 1918 ändert sich, bröckelt die Hörigkeit der kirchlich-monarchistischen Moralvorstellung. Was ist denn schuldhaft daran, dass man sich verliebt, dass man Träume hat? Aus dem ganzen Kartenhaus der Schuld-und Sühne-Theorie bleibt die Erkenntnis, dass hier allein die Unfähigkeit, die Freiheit eines anderen Menschen zu akzeptieren, eine Tragödie auslöst. Die einzige strafbare Tat in dieser Oper bleibt doch nur der Mord. Introvertiert also die Dramatis personæ. Denn Giorgettas Momente der Ausgelassenheit, ein Tanz mit dem Liederverkäufer sind ja keine wirklichen Ausbrüche der Freude, es sind eher spontane Sprünge in die Sehnsucht nach etwas Anderem, nur eine Ablenkung von der Lebenstristesse.

Suor Angelica, Schwester Angelicas eingebildete Schuld – infolge der irrationellen religiösen Erziehung, des Drucks der gesellschaftlichen Regeln, die selbst das Denken erlauben oder verbieten, und infolge des massivem Betrugs – treibt sie in eine seelische Einsamkeit mit einem einzigen Lichtblick: Erinnerung an ihr Kind, von dem sie nur das weiß, dass sie es vor Jahren geboren hat. Betrogen um ihre Liebe, ihre Mutterschaft, um ihr Kind, schließlich um ihr Erbe, gedemütigt und als Sünderin gebrandmarkt, einsam in der eingebildeten Schuld geht sie in den Freitod, an dem sie auch Schuld zu glauben hat. Sie stirbt umgeben von Betrug und Verlogenheit der Familie, strengst überwacht und zur Sühne ermahnt von Funktionärinnen der Religion, die die Nächstenliebe für ihren Wertekanon hält.

Das Groteske dabei, sie stirbt umgeben auch von Mitgefangenen, die es nicht so streng nehmen. Das Kloster in dieser Inszenierung ist ein „Frauenhof“, eine von Nonen geführte Aufbewahrungsanstalt für „unehrenhaft“ schwanger gewordene Frauen, der Suggestion der Regie folgend auch eine Entsorgungsanstalt. Jung und alt, dick und dünn, hübsch und hässlich, sie alle – nach der Hausregel – dürfen sich in diesem Leben nichts mehr wünschen, weil sie Opfer derer sind, die sich von ihnen etwas gewünscht und bekommen haben. Sobald sie ohne Aufsicht gelassen werden, wünschen sie sich bescheiden und machbar, etwas zum Naschen, eine Kleinigkeit zum Besitzen. Oder sie albern ein wenig herum.

Ein einsamer Buh-Ruf im Chor der ohrenbetäubenden Bravi klang nach dem Schluss von Suor Angelica wie ein im Keim erstickter Aufschrei: Aber…

Ja, dieses Aber ist auch meins. Die Regie hat sich für das real existierende Kind entschieden – es ist keine Vision Angelicas, es kommt mit der Großtante, spielt mit den Schwestern, wird von der Mutter absichtlich ferngehalten und zum Schluss doch durch die Glasscheibe zuguckt, wie sie stirbt.

Zu viel Plakat darin, zu viel offensichtliche Kritik an die Betrüger, als wären wir, das Publikum, selbst nicht darauf gekommen, dass es sich um einen krassen Betrug handelt.

Vermögensbetrug, genauer Erbbetrug. Da sind wir gleich bei Gianni Schicchi. Köstlich dieses Werk, für mich die Perle unter den komischen Miniaturen in der Opernliteratur. Die Regie hat alle Register gezogen, genau wie diese Oper es verlangt: Komik der Musik, Komik der Geschichte, Komik der Intonation, der Texte, der Bühnensituationen, der orchestralen Begleitung. Musikalischer Leiter Alexander Kalajdzic hat sich für moderate Tempi entschieden, was dem Verständnis des Bühnengeschehens sehr wohl tut. So viel hier wichtige Wort- und Klangnuancen, so dicht gestrickte Handlung. Dem Publikum wird keine Pause für langatmige Arien, für Wiederholungen gegönnt. Alles muss schnell gehen, damit der Betrug nicht auffliegt. Was nicht bedeutet, dass man schnell singen und spielen muss. Hier spielen Text und Musik so wechselseitig und konsequent zusammen, dass man manchmal nicht mehr weiß, auf was man eher reagiert, auf Komik der Worte, der Bühnensituation oder des Klangs.

Von Mayenburg führt das Ensemble konsequent, nachvollziehbar durch eine lange Kette der Szenen und Szenchen. Viel darin auch Klamauk, Comedy – ohne dass der Eindruck entsteht, hier wolle einer um jeden Preis es komisch haben. Der Schwindel blüht, betrogen wird der Arzt, der Notar, die gierige Kirche, und vor allem betrügt sich die ganze Erbgemeinschaft gegenseitig.

And the winner is: G. Schicchi, der Oberbetrüger! Und der Erblasser Donati, dem ja alles wurscht ist. Der ist ja tot. Und der Gewinner ist vor allem das Publikum – es bekommt eine klare, verständliche Vorstellung voller Witz, Spürsinn und Werkstreue – aber auch der Zeitperspektive angemessener Distanz zum Original.

Und die Schuldfrage? Die vermeintliche Leitlinie der drei Miniaturen?

Hier schlagen Schuldgefühle, wenn sie überhaupt erstehen, in blanke Angst um: Ja ja… Addio, Firenze, addio, cielo divino… Und die abgehackte Hand auch addio.

Jan Ochalski 7.5.16

Fotos (c) Bettina Stöß