Im letzten Jahr beeindruckte die Oper Bonn mit einer mehr als respektablen Produktion von Arnold Schönbergs Opern-Torso „Moses und Aron“. Die aktuelle Saison startete man mit Richard Wagners Bühnen-Koloss „Die Meistersinger von Nürnberg“. Zwei extrem schwer und aufwändig zu besetzende Werke, die selbst große Häuser an die Grenzen ihrer Möglichkeiten führen. Wer sich an die „Meistersinger“ wagt, hat nicht nur 15 männliche Solo-Partien und einen erweiterten Chor zu bestücken und zu bezahlen, sondern muss sich auch einem Werk stellen, das wie keinen anderen ideologischen Missbräuchen ausgesetzt war und ist, die ihm hartnäckig wie Pech am Schuh anhaften und eine vorurteilslose Auseinandersetzung mit den eigentlichen Themen des fünfstündigen Stücks erschweren. Und die kreisen nicht um nationalistischen Chauvinismus oder beschränkte Deutschtümelei, was Wagner immer wieder grundlos angedichtet wird.
Dem Problem kann man sich entziehen, wenn man, wie Barrie Kosky in Bayreuth, gar nicht erst auf das Stück eingeht, sondern die braune Vergangenheit Bayreuths nach Wagners Tod thematisiert. Ein wichtiges Thema, das diskutiert werden muss, aber nicht auf der Bühne. Wie lange lassen wir uns eigentlich noch vor den verzerrten „Meistersinger“-Lügen der Nazis hertreiben anstatt uns mit dem Werk auseinanderzusetzen?
Genau das versucht Regisseur Aron Stiehl in Bonn. Mit dem ersten mächtigen Akkord des Vorspiels explodiert ein auf den Bühnenhintergrund projiziertes Hakenkreuz und damit beginnt ein von fatalem Rezeptions-Ballast befreites Lustspiel im wahrsten Sinne des Wortes. Stiehl unterstreicht den Komödiencharakter, indem er viel Turbulenz entfacht und vor allem im ersten Akt die Liebeswirren, die Gebräuche der Meistersinger und das chaotische Ende der Singprobe mit leichter Hand inszeniert.
Ob er allerdings den tieferen Dimensionen des Stücks gerecht wird und den Bogen nicht überspannt, wenn er die Meistersinger-Clique als Karnevalsverein auftreten lässt, ist fraglich. Vor 15 Jahren ist Uwe Eric Laufenberg mit einer ähnlichen Fastelovend-Transformation in Köln mächtig gescheitert und auf massiven Widerstand des Publikums gestoßen. Das Bonner Publikum goutiert die Meistersinger am Rhein erheblich freundlicher.
Mit diesem recht plakativen Effekt entkräftet Stiehl seine eigenen Versuche, die nachdenklichen Töne und Ideen des Stücks zu vertiefen. Denn von einem Idyll der Heiterkeit kann ja nicht die Rede sein, wenn im zweiten Akt ein nichtiger Anlass eine blutige „Völkerschlacht“ auslöst. Stiehl lässt dazu im Hintergrund Puppen mit den Konterfeis von Trump, Weidel, Höcke, Putin und anderen „Sympathieträgern“ erscheinen. Und wenn Hans Sachs nach der Gewalt-Orgie nach den Gründen des allgegenwärtigen „Wahns“ sinniert, starrt er die Büste Putins an. Momente hintergründiger Reflexion, die allerdings schnell verpuffen, wenn Sachs im dritten Akt im Outfit eines Karnevalspräsidenten das Volk auf die deutschen Meister einschwört. Dass die Sängerinnen und Sänger des gewaltig erweiterten Chors am Ende Bühne und Zuschauerraum überfluten, jeder ein mit dem Namen eines deutschen Künstlers oder Denkers versehenes Pappschild in Händen haltend, macht Eindruck und lässt über Sachs‘ Narrenkappe hinwegsehen.
So spielfreudig und originell Stiehl die Figur des Beckmesser profiliert und so brillant Joachim Goltz die Rolle szenisch und gesanglich darstellt. Über eine Karikatur geht das Rollenprofil nicht hinaus. Hier wie auch in der generellen Darstellung der Meistersinger-Runde verschenkt Stiehl die Chance, den im Stück angelegten kunstästhetischen Konflikt zwischen Tradition und Neuerung nuanciert herauszustellen. So überwiegt in dem etwas nüchternen Ambiente eines recht schmucklosen Theatersaals (Ausstattung: Timo Dentler und Okarina Peter) der Lustspiel-Anteil des Werks. Was kein Manko sein muss. Dass sich überhaupt jemand traut, die „Meistersinger“ als Komödie und nicht als Erbsünde der deutschen Geschichte frisch und munter in Szene zu setzen, verdient Anerkennung.
Die zweite Aufführung im nicht ausverkauften Bonner Opernhaus dirigierte Hermes Helfricht anstelle des erkrankten Generalmusikdirektors Dirk Kaftan. Als 1. Kapellmeister war Helfricht intensiv in die Probenarbeit involviert, so dass man ihm fehlende Werkkenntnis nicht vorwerfen kann. Allerdings hielt er das Bonner Beethoven Orchester dynamisch an einer arg langen Leine, so dass die Solisten bisweilen mehr forcieren mussten als nötig. Immerhin hielt er die sehr komplexen Ensemble und Massenszenen recht sicher zusammen.
Nicht jedes Haus kann eine herausfordernde Partie wie die des Hans Sachs aus eigenen Reihen besetzen. Bonn geht mit Tobias Schabel dieses Risiko ein. Mit gemischtem Erfolg. Schabel bleibt darstellerisch und auch stimmlich recht blass und findet für die vielen Fassetten der Rolle nicht die nötigen stimmlichen Schattierungen und Ausdrucksnuancen. Natürlich muss er angesichts der mörderisch langen Partie mit seinen Kräften haushalten, was bisher allerdings auf Kosten der Differenzierung ging.
Von solchen Problemen kann, wie bereits angedeutet, beim Beckmesser von Joachim Goltz ebenso wenig die Rede sein wie bei Anna Princeva, die als Ensemblemitglied eine emotional intensiv und stimmlich vorzügliche Eva präsentiert. Ein gelungenes Rollendebüt darf Mirko Roschkowski als Walther von Stolzing verbuchen, der seine Preislieder kultiviert und mit einiger Strahlkraft zum Besten gab. Ansonsten gefällt die Besetzung der zahlreichen kleineren Rollen durch ihre qualitative Homogenität. Und der Chor ließ es auch in den kniffligsten Passagen wie etwa der Prügelfüge nicht an bemerkenswerter Präzision missen.
Insgesamt eine sympathische Neuproduktion der „Meistersinger“, die sich auf das Werk konzentriert und die problematische Rezeption außen vorlässt. Und das auf hörenswertem musikalischem Niveau.
Pedro Obiera, 8. Oktober 2024
Die Meistersinger von Nürnberg
Richard Wagner
Theater Bonn
Aufführung am 6. Oktober 2024
Premiere am 3. Oktober 2024
Inszenierung: Aron Stiehl
Dirigat: Hermes Helfricht
Beethoven Orchester Bonn
Die nächsten Aufführungen im Bonner Opernhaus: am 13., 19. und 26. Oktober sowie am 2., 22. und 24. November (www.theater-bonn.de).