Premiere am 10.11.2019
Der Machtverlust einer Zauberin
Die Oper Alcina (1735) von Georg Friedrich Händel ist lang. Auch in Bremen dauert sie trotz einiger Kürzungen (die Figur des nach seinem Vater suchenden Oberto taucht z. B. gar nicht auf) noch immer fast dreieinhalb Stunden. Und bei der Bauart des Werkes, bei dem es praktisch keine Ensembleszenen gibt und sich „nur“ eine Arie an die andere reiht, sind Längen vorprogrammiert. Dabei gibt die Handlung eigentlich viele Gelegenheiten für „barocken Zauber“: Sie basiert auf einer Episode aus Ludovico Ariosts „Orlando furioso“, einem Abenteuerroman des 16. Jahrhunderts, und spielt auf einer von der Zauberin Alcina beherrschten Insel.
Alcina verführt ihre Liebhaber scharenweise und verwandelt sie, wenn sie ihrer überdrüssig wird, in Tiere, Steine oder Blumen. Auch Ruggiero verfällt ihr und verlässt für sie seine Verlobte Bradamante. Bradamante und ihrem Vertrauten Melisso gelingt es aber mittels eines Gegenzaubers, Ruggiero aus Alcinas Reich zu befreien und für ein glückliches Ende zu sorgen. Auch Alcinas Schwester Morgana und ihr Geliebter Oronte finden nach diversen Eifersüchteleien dauerhaft zusammen. Alcina ist die Verliererin, die Macht, Glück und Jugend einbüßt.
Regisseur Michael Talke betont in seiner Inszenierung nicht in erster Linie den Aspekt der „Zauberoper“, sondern sieht das Werk vor allem als philosophisches Psychogramm. Denn das Handlungsgerüst ist aus seiner Sicht eigentlich nur die Klammer für die vielen Affekte, die in Händels Arien ihren Ausdruck finden: Liebe, Verlustangst, Eifersucht, Kränkung, Wut, Enttäuschung, Macht, Ohnmacht und vieles mehr. Trotzdem bleibt die Imagination einer Zauberwelt erhalten. Dafür stehen auch die Bühnenbilder von Thilo Reuther.
Er hat sich bei seiner Konzeption von dem niederländischen Maler Otto Marseus van Schrieck inspirieren lassen, der für seine Stilleben bekannt geworden ist. Oft zeigen seine Bilder üppige Blüten einerseits, Zerfall und Morast andererseits. Dieser Naturwelt stellt Reuther mit dem Gerüst eines Einfamilienhauses eine bürgerliche Welt (die von Ruggiero und Bradamante) gegenüber. Auch ein Schiff, mit dem man die Insel erreicht (und wichtiger: auch wieder verlässt) ist zu sehen. Und immer wieder laufen Menschen mit Tierköpfen durch die Szene – die dunkle Kehrseite von Alcinas Zauberwelt.
Talkes Personenführung ist stets lebendig und besonders bei Morgana von viel tänzerischer Bewegung geprägt. Anschaulich werden Alcinas Verführungsmechanismen gezeigt, wenn sie Ruggiero eine Blume zuwirft (wie Carmen dem Don José) und der ihr fasziniert in ihr Reich folgt. Den Untergang von Alcinas Reich verdeutlicht Talke sehr eindringlich.
Auf der Bühne sind alle farbenfrohen Blüten verschwunden, dafür hängt ein riesiges, bedrohliches Insekt vom Schnürboden herab. Und auch die vorher bonbonfarbenen Kostüme (von Regine Standfuss) haben allen Glanz verloren. Alcina sieht fast wie ein gerupftes Huhn aus. Und wenn ihr auch noch die Perücke heruntergerissen wird und sie kahlköpfig dasteht, ist sie nur noch ein Bild des Jammers. Hier wird deutlich: Alcina ist eine tragische Figur. Sie wird sich durch den Verlust des Geliebten ihres Alterns bewusst. Was bleibt, ist ein alternder, einsamer Mensch. Einen kleinen Schlussgag gönnt sich Talke auch. Nachdem Alcina im Wasser entsorgt wurde, taucht sie wieder auf, streut Blumen und lockt jetzt Bradamante in ihr neues Reich. Siegt nun die Vernunft (Ruggiero) oder das Gefühl (Alcina)?
Musikalisch glänzt die Sängerschar mit einem Feuerwerk der Koloraturen. Marysol Schalit kann als Alcina alle Facetten der Figur in virtuosen Gesang umsetzen. Auch Ulrike Mayer ist mit ihrem schönen Mezzo ein sehr präsenter, technisch versierter Ruggiero. Einen guten Eindruck hinterlässt auch die Gastsängerin Candida Guida als Bramante, auch wenn ihr die Koloraturen nicht ganz so leichtfüßig gelingen.
Einfach bezaubernd ist Nerita Pokvytyté als Morgana. Ihr Charme und ihre stimmliche Brillanz rücken die Rolle ganz in den Vordergrund. Und die Kabbeleien mit ihrem Liebhaber Oronte machen einfach Vergnügen. Diesen Oronte singt Luis Olivares Sandoval. Eigentlich ist Barockmusik nicht unbedingt seine Domäne, aber er findet sich mit seinem ausdrucksvollen Tenor gut in die Musik Händels ein. Den Melisso gestaltet der Bassist Stephen Clark mit schlanker Tongebung und durchweg überzeugend.
Am Pult der Bremer Philharmoniker kann Marco Comin mit kluger Disposition und einem gut austarierten Händel-Klang gefallen.
Wolfgang Denker, 11.11.2019
Fotos von Jörg Landsberg