Bremen: „Lohengrin“, Richard Wagner

Nein – in der Lesart von Regisseur Frank Hilbrich ist Wagners Oper Lohengrin kein romantisches Märchen, in dem der edelmütige Ritter Lohengrin die zu Unrecht angeklagte Elsa von Brabant retten will. Es ist vielmehr eine bitterböse und pessimistische Parabel über irrationale Träume des Volkes und über dessen Verführbarkeit. Lohengrin ist hier nicht die geheimnisvolle Lichtgestalt, er ist ein schlaksiger Jüngling, der mit seinem Rucksack daherkommt und den König kumpelhaft begrüßt, so als wolle er sagen: „Seht, ich bin einer von euch.“ 

© Jörg Landsberg

Das Volk sieht in ihm allerdings den Heilsbringer – und Lohengrin nimmt diese Rolle an. Der Zweikampf zwischen ihm und Telramund findet als solcher nicht statt, dafür wird der Gerichtssaal verwüstet: Lohengrin kippt einen Schreibtisch um, Akten werden zerfetzt und durch die Luft gewirbelt und die Bilder der früheren Herrscher von Brabant von den Wänden gerissen. Der Umsturz hat geklappt, die „Machtergreifung“ ist vollzogen. Auf Plakaten steht „Unsere Zukunft ist…“, ergänzt von einem stilisierten Schwanenlogo. Wem kommt da nicht das Hakenkreuz in den Sinn? Im zweiten Akt durchwühlen Ortrud und Telramund das Trümmerfeld des Gerichtssaals nach Dokumenten. Ortrud ist hier nicht als dunkle Gestalt des Bösen gezeichnet, sie trägt ein schneeweißes Kleid und scheint die Einzige zu sein, die Zweifel an dem „Heilsbringer“ hat und die richtigen Fragen nach dessen Herkunft stellt, während das Volk gleichgeschaltet und kritiklos mit den Armen Schwanenbewegungen vollführt. „Gut“ und „Böse“ sind hier vertauscht. Im dritten Akt wirken Lohengrin und Elsa nicht unbedingt wie ein Liebespaar, ihre Annäherung scheint nur widerwillig zu sein. Dafür deponiert das Volk Schwaneneier in einer Art Brutkasten. Vor der letzten Szene gibt es einen Fackelaufzug als staatliche Selbstinszenierung, bevor dann ein entsetzliches Gemetzel nur noch Tote hinterlässt.

© Jörg Landsberg

Eine verheerende Bilanz des „Heilsbringers“.  Frank Hilbrichs deprimierende Sicht auf „Lohengrin“ ist sicher gewöhnungsbedürftig. Aber er setzt sie konsequent und handwerklich sehr ausgefeilt um. Seine Führung der Solisten und des Chors ist stets durchdacht und fasziniert im Laufe des Abends immer mehr. Das Bühnenbild von Harald Thor zeigt einen Gerichtssaal, von dessen Balustrade die Trompeten schmettern. Am Bühnenhimmel gibt es zunächst einen riesigen Spiegelbaldachin – ein perfekter, unerreichbarer Ort, der aber nach und nach zerfällt und mit dessen Scherben herumhantiert wird. Stefan Klingele und die Bremer Philharmoniker musizieren, passend zur Inszenierung, einen sehr bodenständigen „Lohengrin“, dem zwar (etwa im Vorspiel) das Ätherische etwas fehlt, der aber mit wuchtigen Klangtableaus überzeugt. Die Qualität von Chor und Extrachor ist dabei hervorragend (Einstudierung Karl Bernewitz). Christopher Sokolowski entspricht rein optisch so gar nicht dem Lohengrin, er könnte mit seiner jungenhaften, schlanken Physis auch Balletttänzer sein. Aber mit seinem männlich timbrierten Tenor erfüllt er alle Voraussetzungen für die Partie, die er bis zum Ende mit Glanz und ohne Ermüdung durchsteht. Nadine Lehner zieht bei ihrem Rollendebüt als Ortrud alle Register ihrer Vielseitigkeit. Sie kann nicht nur wundervoll „keifen“, sondern auch verführerische Gesangslinien formen. Vehement schleudert sie ihr „Entweihte Götter“ heraus.

Ihre Bühnenpräsenz ist inzwischen legendär. Auch Sarah-Jane Brandon kann mit ihrem ebenmäßigen Sopran der Elsa ansprechendes Profil verleihen. Ausdrucksvoll verdeutlicht sie ihre selbstquälerischen Zweifel an Lohengrin (und an ihrer Liebe). Dem persönlichkeitsstarken Hidenori Inoue hätte man als König Heinrich etwas runderes Bassvolumen gewünscht, während Elias Gyungseok Han mit bester Diktion und markantem Bariton in der Partie des Telramund einen starken Eindruck hinterlässt. Michal Partyka ist als Heerrufer angemessen besetzt. Fazit: Eine ungewöhnliche, konsequent realisierte Inszenierung und ein hohes musikalisches Niveau.

Wolfgang Denker, 17. September 2024


Lohengrin
Richard Wagner

Theater Bremen

Premiere am 15. September 2024

Inszenierung: Frank Hilbrich
Musikalische Leitung: Stefan Klingele
Bremer Philharmoniker

Weitere Vorstellungen: 29. September, 3., 13., 31. Oktober, 24. November, 1., 22. Dezember 2024, 19. Januar 2025