Freiburg: „The Handmaid’s Tale“, Poul Ruders

Das Grauen heißt Gilead

In den letzten Jahren habe ich auf Opernbühnen kaum Besseres gesehen – besonders in der Kategorie „Kassengift“- gemeint sind Erstaufführungen, Auftragswerke und moderne neue Opern. Hier gibt es eine Geschichte nach der Buchvorlage von Margaret Atwood, die uns auch noch zeitaktuell berührt – sogar den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels gab es 2017. Zwar 37 Jahre nach der Buchveröffentlichung, aber damals war die Welt ja noch relativ in Ordnung. Das Fatale: Heute ist fast alles Beschriebene Realität geworden. Was uns hier an Schrecken, Krieg, Terror und Glaubensfanatismus erzählt wird, ist kein böser fiktiver Alptraum. Es beschäftigt uns in den täglichen Nachrichten, ist so erschütternd wie unerwartet.

© Paul Leclaire / Theater Freiburg

Die Handlung spielt größtenteils in den USA, die sich nach einem Bürgerkrieg aufgespalten haben und sich nun „Gilead“ nennen; unter der Knute einer Sekte evangelikaler Fanatiker haben sie einen kruden faschistischen Gottesstaat gegründet. Es gilt das Alte Testament. Wer sich nicht an die Regeln hält, wird massakriert und an Bäumen, Mauern, Brücken oder Kränen aufgehängt. Die Bevölkerung ist durch Umweltvergiftung und Radioaktivität erheblich reduziert worden. Die meisten noch überlebenden Männer und Frauen sind nicht mehr zeugungsfähig. Da müssen nun wenige, noch zeugungsfähige Mädchen ran, die in Terrorlagern für die Fortpflanzung vorbereitet, medizinisch kontrolliert und dann zur Vergewaltigungen durch ihre Herren als Mägde freigegeben werden – ein letzte Versuch, die Weiterexistenz des kleinen Rests der Bevölkerung zu sichern.

Frauen dürfen natürlich nicht mehr arbeiten. Sie werden als Mägde den Herrschenden als Diener und Gebärmaschinen zugewiesen und verlieren jegliche Identität. Sie tragen nun den Namen des Besitzers mit Anhang. Heißt dieser „Fred“, heißt die Magd nun in der deutschen Fassung „Desfred“. Eigentum des Fred. Für die Oper hat man allerdings die amerikanische Bezeichnung „Offred“ übernommen. Wer aus den Lagern flieht, dem wird erstmal ein Auge amputiert, dann passiert Schlimmeres. Textstelle: „Wozu braucht ihr Hände und Füße? Hauptsache die Gebärmutter funktioniert.“

© Paul Leclaire / Theater Freiburg

Die Warnung des Theaters ist gerechtfertigt: Diese Oper beinhaltet Themen von Gewalt, Vergewaltigung und Mord. Eigentlich sollte da noch stehen: sie ist frauenfeindlich, gemein, bösartig und zynisch – immerhin nicht rassistisch und geraucht wird auch nicht – also jugndfrei.

Margaret Atwood lässt mit ihrem dystopischen Meisterwerk Orwells „1984 noch weit hinter sich. Man könnte bösartig sagen Wir erleben ein Amerika zehn Jahre, nachdem Trump die Macht übernommen hat.

Atwoods Roman wurde unter dem deutschen Titel „Die Geschichte der Dienerin“ schon fünf Jahre nach Erscheinen des Buches von Volker Schlöndorff in einer 2-Stunden-Version sehr gut verfilmt. Das Drehbuch schrieb der geniale Autor Harold Pinter (unbedingt anschauen, nach oder vor der Lektüre des Buches!). Dann kam die Geschichte 2017 als Serie heraus, die ich als Serienfreak mit dee Bewertung „Beste Serie aller Zeiten“ versehen habe; endete allerdings nach der dritten Staffel mit einem Cliffhanger, welchen übrigens auch die Oper sehr gut und ohne Ärger oder Frust zu evozieren geschickt arrangiert. Der Riesenerfolg der Serie ist auch der Besetzung der hochschwierigen und komplexen Hauptrolle mit Elisabeth Moss, eine der weltbesten Schauspielerinnen unsere Zeit, zu verdanken. Es ist ihrer ungeheuerlichen Präsenz und Darstellungskraft zu verdanken, daß Margaret Atwood noch eine Fortsetzung des Buches schrieb.

© Paul Leclaire / Theater Freiburg

Für die Oper hat Regisseur Peter Carp das Ganze in drei Zeitebenen einbettet, als wenn es nicht schon so komplex und kompliziert genug wäre: Ein Kongress in ferner Zukunft ist die Klammer der Geschichte – ein genialer Kunstgriff.

„International Historical Association 25. Juni 2195 – the 12. Symposium on the Republic of Gilead – formerly the United States of America. Symposium subject: Iran and Gilhead. The early 20. Century monoteocratic State. Keynote: A Recently discovered Audio Diary from Gilead „The Handmaid’s Tale of 2030“.

Klingt kompliziert, ist es aber nicht. Es ist ein superber Theatercoup des Regie-Teams, quasi eine Bebilderung der Ouvertüre. Die Oper beginnt mit aktuellen, in guter Qualität projizierten Bildern zu einer an Schostakowitsch erinnernden Musik. Carp schafft es, die gesamte hochdifferente Geschichte mit ihren vielen Spielorten und Nebensträngen reduziert auf das Umerziehungslager für Mägde in drei Stunden unterzubringen. Ein Trost: Die Serie zeigt auch nicht alles und die dauert schon über 30 Stunden (Keine Panik es ist keine Sekunde zu viel und niemals langweilig, wie auch die Oper!).

© Paul Leclaire / Theater Freiburg

Beim Künstlerischen muss Inga Schäfer in der Hauptpartie herausgehoben werden. Was sie zu singen hat, ist nicht von dieser Welt. Überhaupt reüssieren auch die unzähligen Comprimarii perfekt in ihren stimmmordenden, hoch anspruchsvollen Rollen à la bonheur. Jede Person hat eine eigene Klangsprache. Es klingt modern, aber angenehm durchhörbar.

Die Vergewaltigung der Magd durch ihren Commander im Beisein von dessen unfruchtbarer Frau wird ambivalent mit der süßlichen Melodie von „Amazing Grace“ durchsetzt. Die Musik ist eine gelungene  Mischung aus Benjamin Britten, John Adams, Chorälen, gelegentlichem sinfonischem Bombast, Jazz und viel 12-Tönigem, wenn man Vorbilder sucht.

© Paul Leclaire / Theater Freiburg

Der Chor unter Norbert Kleinschmidt hat Wagnersche Dimensionen und das Dirigat von Ektoras Tartanis beglückt. Die Drehbühne von Kaspar Zwimpfer leistet gute Dienste und fügt sich ideal ins künstlerische Gesamtkonzept. Die Übertitel sind etwas dunkel, aber dafür in Deutsch und Englisch.

Eine Jahrhundertoper in perfekter Aufführung.

Viele junge Leute, die auch gefesselt und begeistert schienen. So und in dieser Qualität kann man neues Publikum gewinnen. Das Theater Freibug leistet Vorbildliches.

Peter Bilsing 18. Juli 2024


PS 1: Liebe Opernfreunde, nehmen Sie bitte in der neuen Spielzeit dieses großartige Werk wahr. Es gibt noch 8 Aufführungen, Auch die weiteste Anreise lohnt. Das Werk ist sicherlich keine Eintagfliege. Es wird seinen Weg an die großen internationalen Häuser gehen, wo es dann von Regie-Psychopathen mit ihrem aufgeblasenen Ego verhunzt wird – hoffentlich nicht. Es ist ein Meilenstein, eine wichtige Mahnung an unsere Zeit! Und da ist die Werktreue von exorbitanter Bedeutung, und man muss sich als Regisseur diesem fantastischen Werk, wenn man noch über Empathie, kritischen Zeitgeist, Herz und Musikempfinden verfügt, einmmal unterwerfen. Das ist große Regiearbeit.

PS 2: Appell an ARTE oder 3-SAT und Arthaus: Bitte, bitte unbedingt aufnehmen, wenn ihr wirklich ein Herz für Musiktheater habt – wie gesagt ein JAHRHUNDERTWERK!


The Handmaid’s Tale
Poul Ruders

Theater Freiburg

Uraufführung 2000
Deutsche Erstaufführung 28. Juni 2024
Besuchte 2. Vorstellung 13. Juni 2024

Regie: Peter Carp
Dirigat: Ektorat Tartanisw
Philharmonisches Orchester Freiburg

Einführung

um einen Eindruck der Musik zu bekommen hier der Trailer der australischen Version

Trailer der Fernsehserie

Toller Trailer des Schlöndorff Films