Hildesheim: „La Traviata“

Premiere am 5. Juni 2021

Endlich live

Robyn Allegra Parton

Mit dem überaus beliebten Publikumsrenner La Traviata ist das Theater für Niedersachsen (tfn) nach langer Pause wieder in den Live-Modus eingestiegen. Allerdings so richtig live war es dann doch noch nicht: Zwar gab es jetzt anders als bei Mercadantes „I briganti“, der letzten Musiktheater-Produktion im September 2020, keine Fassung für verkleinertes Orchester, aber dennoch konnte „La Traviata“ in der bereits im Herbst 2020 beginnenden Probenzeit unter den geltenden Bedingungen nicht so wie früher vor der Pandemie üblich verwirklicht werden. Deshalb wurden in einem Tonstudio Aufnahmen von Orchester und Chor gemacht, die auf besondere Weise in die Neuinszenierung eingebracht wurden. Sie wurden nicht einfach abgespielt, sondern waren Teil der Produktion, indem vor Beginn und auch zwischendurch optische Mitschnitte von der Probenarbeit zu sehen waren. Akustisch passten die von Hildesheims GMD Florian Ziemen erstellten Aufnahmen der Orchesterbegleitung und der Chorszenen (Einstudierung: Achim Falkenhausen) mit den nun wirklich live singenden und agierenden Solisten dank der äußerst präzisen Zeichengebung des griechischen Studienleiters Panagiotis Papadopoulos erstaunlich gut zusammen. Allerdings wirkte es in den großen Szenen manchmal doch etwas steril, weil die Tempi natürlich durch die vorproduzierten Aufnahmen, die übrigens teilweise zu leise klangen, eben vorgegeben und damit unveränderbar waren. Dies mag auch der Grund dafür gewesen sein, dass an vielen Stellen der versierte Solorepetitor Demian Ewig am Klavier zum Einsatz kam. Denn man hatte nicht den Eindruck, dass dies aus inszenatorischen Gründen erfolgte, sondern vor allem dann, wenn es um musikalisch heiklere Stellen ging, an denen eine individuelle Begleitung der Sängerinnen und Sänger nötig war.

Zachary Bruce Wilson/Yohan Kim

Ungewöhnlich war, dass nicht wie inzwischen allerorts üblich im italienischen Original gesungen wurde, sondern in der Fassung der deutschen Erstaufführung in Hamburg 1857, für die die Sängerin der Titelpartie Natalie von Grünhof die deutsche Übersetzung des Librettos erstellt hatte. Die Protagonisten hatten damit jedoch keine Probleme, wie überhaupt durchweg auf ansprechendem Niveau gesungen wurde. Da ist an erster Stelle Robyn Allegra Parton als Violetta zu nennen, die wie schon bei den „Briganti“ positiven Eindruck hinterließ. Wie die britische Sängerin die widerstreitenden Gefühle der todkranken Liebenden eindringlich zu gestalten wusste, gefiel trotz der nicht durchweg einsichtigen Personenregie. Ihr ausdrucksstarker Sopran erwies sich im ersten Akt als koloratur- und höhensicher, ließ im zweiten mit warmen Farben ausgestattete lyrische Töne hören und hatte besonders im Schluss-Akt schöne Piani. Dass sie öfter dazu neigt, die Töne besonders in der Mittellage von unten anzuschleifen, kann sie sich wohl noch abgewöhnen. Yohan Kim war in der Gestaltung des in Violetta ernsthaft verliebten Alfred ein wenig blass, während er seine kräftige Stimme mit dem nötigen tenoralen Strahl versah und eindrucksvoll bewies, dass er mit den Höhen der Partie keinerlei Probleme hat. Der US-Amerikaner Zachary Bruce Wilson gab den in alten Konventionen verhafteten Vater Germont, der von der Regie her nur wenig erkennen lassen durfte, wie sehr ihn Violettas Einstellung beeindruckte. Mit seinem markanten Bariton gelang es ihm, die vielen Legato-Bögen seiner Partie eindrucksvoll auszusingen. Im Übrigen erwies sich die Solidität des Hildesheimer Opernensembles: Stimmstark gab Neele Kramer die feierfreudige Flora Bervoix sowie die um Violetta besorgte Annina. Sicher und ohne Fehl erwiesen sich Julian Rohde als Gaston, Eddie Mofokeng als Baron Douphal, Jesper Mikkelsen als d’Obigny und Uwe Tobias Hieronimi als Doktor Grenvil.

Zachary Bruce Wilson/Robyn Allegra Parton/Neele Kramer/Yohan Kim/Eddie Mofokeng

Die Neuinszenierung der serbischen Regisseurin Beka Savic in der Ausstattung von Telse Hand war aus verschiedenen Gründen reichlich gewöhnungsbedürftig. Das mit einer großen zweiflügeligen Tür und großen grauen Quadern einfach gestaltete Bühnenbild war gut bespielbar. Merkwürdig war dagegen die Kleidung der Protagonisten, die Kostüme mit gleichem, etwas exotisch anmutendem Muster trugen. Vater Germont sah mit seinem schmalen Zylinder eher wie ein Zauberer aus dem Märchen aus. Dass Flora einen Kopfschmuck aus Sektkelchen trug, sollte wohl darauf hindeuten, dass mit dieser Kostümierung die Spaßgesellschaft gemeint war, aus der Violetta ausbrechen will. Alfred trug durchgehend einen bunten einteiligen Hosenanzug, vielleicht weil ihm der Ausstieg nicht gelungen ist, was zum Schluss der Oper nun überhaupt nicht passte. Am Anfang der Oper sah man zur wunderbaren Sphärenmusik des Vorspiels Violetta in einem eleganten Ballkleid, die offenbar in Erinnerungen auf die vergangene Zeit zurückblickt, indem sie einen Brief liest, wahrscheinlich den von Vater Germont, mit dem die Rückkehr Alfreds angekündigt wird. Sobald die Musik zum Auftakt von Violettas Fest im 1.Akt erklingt, zieht sie einen Umhang im beschriebenen Muster an – und die schicksalhaften Begegnungen können beginnen. Wenn das Folgende alles Violettas Erinnerungen sein sollen, war der Schluss mit Krankenlager und Tod unbefriedigend und inkonsequent. Denn in den letzten Szenen sang sie mal aus dem Off, mal aber auf der Bühne. Dass sich Violetta und Alfred beim wunderschönen, aber tieftraurigen Schlussduett nicht umarmen dürfen, ist Corona geschuldet. Dass aber Violettas Leiche bei Alfreds Rückkehr auf einem der Quader unter weißen Tüchern quasi aufgebahrt ist, entsprach in keiner Weise dem Libretto und damit dem zu singenden Text, den man in den Obertiteln gut verfolgen konnte. Besonders ärgerlich war, dass Alfred in dem Augenblick mit dem Rücken zum Publikum am Boden vor der „Leiche“ kniete, als Violetta ihm ihre über den Tod hinausgehende Liebe erklärte, indem sie – jedenfalls nach dem Libretto – ihm ihr Medaillon gibt, dass er an eine künftige Liebe weitergeben soll.

Fazit: Schön, dass die Theater wieder vor Publikum spielen dürfen und dass man Sängerinnen und Sänger live erleben kann, auch wenn die hier angebotene inszenatorische Lösung nicht überzeugte.

Bilder: © Jochen Quast

Gerhard Eckels 6. Juni 2021