
Der künstlerische Leiter des Theaters Hagen, Francis Hüsers, beschenkt sich und sein Publikum in dieser letzten Spielzeit seiner Intendanz mit zwei hochpolitische Dramen Friedrich Schillers, die wie keine anderen Macht und Ohnmacht, Staatsräson und Freiheitskampf, tödliche Intrigen, Eifersucht, verratene Liebesbeziehungen und verbitterte Herrscher beiderlei Geschlechts abhandeln und somit zeitlos aktuell sind. Zunächst inszenierte er Maria Stuart, und nun Don Carlos – allerdings nicht im Schiller’schen Original, sondern, als Fan von Musiktheater, in der Fassung von Joseph Méry und Camille du Locle mit der fesselnden Musik von Guiseppe Verdi. Komponiert hat Verdi die Oper – die Namen der Librettisten verraten es – für die Pariser Oper. Uraufgeführt wurde sie im März 1867. Kurz darauf entstand eine italienische Fassung (Don Carlo). Es ist im Original nicht nur eine Grande Opéra mit fünf Akten und einem Ballett, sondern sie war sogar gleichsam zu „grande“, weshalb Verdi Striche vornehmen musste, damit die Premierenbesucher die letzten Vorortzüge erreichen konnten. So gibt es von vorherein drei Versionen (die italienische basiert auf der gekürzten und ist vor allem um das Ballett ärmer). Später hat Verdi weitere Bearbeitungen vorgenommen und die Oper dabei auf die in Italien handelsüblichen vier Akte gekürzt (UA 1884 Mailand), auch die heute gängigen fünfaktigen Versionen leiden unter ökonomischen Strichen. Insgesamt sind sieben Fassungen (ohne weitere Übersetzungen) im Umlauf. Für welche hat sich nun das Hagener Team entschieden? Nach den positiven Erfahrungen mit aufwändigen Wagner-Produktionen war es klar, dass man – nein, nicht den ganzen „Ring des Nibelungen“ – die Fassung der Uraufführung von 1867 geben würde (also nicht die Urfassung, deren Uraufführung 2001 an der Hamburgischen Staatsoper Francis Hüsers als Produktionsleiter betreute).

Das Besondere der fünfaktigen Version ist der 1. Akt, genannt Fontainebleau-Akt, da er auf dem Gebiet dieses Schlosses stattfindet, während der Rest in Spanien spielt. Er zeigt in der Ur- und dieser Fassung das kriegsversehrte und hungernde französiche Volk. Elisabeth de Valois, französische Prinzessin, ist eigentlich für den spanischen Erbfolger (Infant) Carlos ausgewählt und wird von diesem angebetet. Doch der verwitwete spanische König Phillip II. entscheidet sich kurzfristig, selbst Elisabeth zu ehelichen, um die Feindschaft zwischen den beiden Nationen zu begraben – offenbar misstraut er berechtigterweise, wie sich herausstellen wird, den Herrscherqualitäten seines Sohnes. Aus Verantwortung zu ihrem sich nach Frieden sehnendem Volk beugt sich Elisabeth dieser Wende, obwohl sie von dem Prinzen durchaus herzlich angetan ist. Für den verbitterten Carlos wird die Geliebte damit nicht nur zur Königin, sondern insbesondere zur Mutter, eingezwängt in die Sitten und Rituale des spanischen Hofes. Hiermit ist eine wichtige Konfliktlinie aufgetan. Eine weitere ist die zwischen Carlos und seinem Vater, dem König. Denn sein Freund Rodrigue, Marquis de Posa, der die Unterdrückung der Niederländer erlebt hat, empfiehlt dem Infanten, sich bei seinem Vater für die protestantischen Niederländer einzusetzen. Gleichzeitig kann er das Vertrauen des Königs gewinnen. Das wiederum bekommt der Großinquisitor mit, der dem König empfiehlt, eher die aufrührerischen Carlos und Posa zu opfern als den heiligen katholischen Glauben, zudem sich selbst vor der Inquisition zu fürchten. Außerdem ist da noch die intrigante Prinzessin Eboli, die sich für alle drei Männer interessiert und mehr als eifersüchtig wird, als sie mitbekommt, dass Carlos heimlich seine (Stief-)Mutter anbetet. Sie beschuldigt Elisabeth daher, eine Affäre mit Carlos zu haben, schläft aber selbst gleichzeitig mit Philip. Am Ende wird nicht Carlos, sondern Posa das Opfer der Ränke und wird im Gefängnis ermordet, in den Armen seines Freundes sterbend. Eboli begibt sich unfreiwillig in ein Kloster, nachdem sie ihre Intrigen zugegeben hat, zettelt dazwischen aber noch vergeblich einen Volksaufstand an. Da dies die textreichste Oper Verdis ist, wird an dieser Stelle auf eine genauere Inhaltsangabe verzichtet. Regisseur Francis Hüsers erkennt in dem Figurensetting das Spiel der Könige und ordnet die Personen den Schachfiguren zu, wobei die Farben keine moralischen Vorwürfe sind wie meist sonst im Theater. Philip, der weltliche Herrscher, ist der weiße König. Ihm gegenüber steht als schwarze König in Personalunion Mönch und Großinquisitor als Vertreter der beherrschenden kirchlichen Macht. Dem weißen König steht Elisabeth als Dame zur Seite (Bild 2), dem schwarzen die Eboli als unabhängige, ihre eigenen Interessen verfolgende Frau. Carlos und Rodrigue tragen weiße bzw. schwarze Bischofsmützen. Der Chor besteht aus Läufern, Springern und Türmen (Kostüme: Katharina Weissenborn).

Alle spielt sich im Einheitsbühnenbild von Mathis Neidhardt ab auf einem großen, leicht geneigtem Schachbrett, dessen eine Ecke über den Orchestergraben ragt. Die Kulisse besteht aus hohen, schwarzen Wänden im Renaissancestil mit hohen Lamellentüren, die sowohl einen Innenraum wie einen Außenraum begrenzen können. Rot ist die einzige Farbvariante; entweder als luftige Schleier oder als Augenbinden für die flandrischen Deputierten. Nun führen die Figuren bei Schiller, bei Verdi und vor allem im echten Leben ein Eigendasein, weshalb die Regeln des Schachspiels hier nicht immer funktionieren und die oben genannten Konfliktlinien selten in die abgezählten Quadrate des Spielfelds passen. Und das macht den Reiz dieser Inszenierung aus: Die Personen haben ihre Rollen im Spiel der Macht, aber dieses droht nicht mehr zu funktionieren, wenn Figuren ihrer Rolle nicht gerecht werden. So versucht Posa, Carlos für den niederländischen Freiheitskampf zu gewinnen, und zieht ihm ein schwarzes Schachkostüm über. Er selbst erhält vom König, wenn er ihn zum Vertrauten erhebt, ein weißes (Bild 1). Und bei beiden schimmert die ursprüngliche Farbe durch, wodurch ihre Ambivalenz deutlich wird (Bild 4). Die Konfrontation zwischen Philip und Großinquisitor im vierten Akt sowie ihre daraus folgende gemeinsame Linie wird auch augenfällig. Hier, wie auch in anderen Szenen, werden tatsächliche Schachzüge auf dem Spielfeld ausgeführt.

Dies sind nur die markantesten der vielen kleinen Details, die dank dieser Zuordnung die Figurenkonstellationen und ihre Entwicklung verdeutlichen. In dieser Weise jagt eine spannende Szene die nächste. Und das ist nicht nur das Verdienst der Inszenierung, sondern auch und besonders der Musik Verdis und ihrer Umsetzung in dieser Produktion. Denn in Hagen kann man einen neuen Stern am Sopranhimmel erleben. Caterina Meldolesi singt die Elisabeth mit einer begnadeten Stimme. Sie strahlt in allen Lagen, besticht durch zarte, dennoch leuchtende Piani, ist zu großen dynamischen und emotionalen Steigerungen fähig und dennoch technisch stets lupenrein kontrolliert. Ihr steht gewiss eine große, internationale Karriere bevor! Don Carlos wird verkörpert von Kazuki Yoshida. Er wirkte zunächst blass und unsicher, was wohl der Premierennervosität geschuldigt war, denn nach der ersten Pause legte er an Leidenschaft und Ausstrahlung zu und entwickelte sich zu einem glaubwürdigen Infanten, obwohl seine Stimme monochrom blieb. Almerija Delic verkörpert die Eboli im wahrsten Sinne des Wortes. Sie macht von vornherein darstellerisch und stimmlich klar, dass sie weiß, was sie will. Aber auch Ebolis Reue am Ende des Dramas trifft sie perfekt. Als vierter Gast konnte Renatus Mészár als Philip II. gewonnen werden. Er bringt seine ganze Erfahrung mit dieser Rolle ein, zeigt die Facetten dieser Figur – nach außen autoritär, nach innen vereinsamt und zerrissen – in ihrer ganzen Bandbreite mit den reichen ihm zur Verfügung stehenden stimmlichen Mitteln. In seiner Arie im vierten Akt darf er sich privat ohne Schachkostüm, dafür selbst Schach spielend, zeigen (Bild 3). Die übrigen Rollen singen Mitglieder des Hagener Ensembles. Insu Hwang ist mit seinem edlen Bariton die Idealbesetzung für den Marquis de Posa, Dong-Won Seo wie immer eine zuverlässige Bank für die Basspartien, hier Mönch und Großinquisitor. Luxuriös nennen darf man die Besetzung Thibeaults mit Ofeliya Pogosyan und des Grafen von Lerma mit Anton Kuzenok, der auch den Herold singt. Thibeault ist bewusst weiblich dargestellt und der Schachfigur „Springer“ zugeordnet, um ihre Leichtigkeit und Unbekümmertheit zu demonstrieren, während Lerma als Turm eine klare Wächter- und Ordnungsrolle bekleidet. Auch die kleinsten Rollen (Stimme aus der Höhe, flandrische Deputierte) zeigen gute vokale Präsenz, ebenso Chor und Extrachor (Leitung: Julian Wolf), wobei es schon mal vorkommen kann, dass Chor und Extrachor nicht ganz harmonieren, was in Anbetracht ihrer großen Aufgaben absolut verzeihlich ist. Der ebenfalls scheidende Chefdirigent Joseph Trafton macht mit den ersten Takten klar, wie er das Orchester behandelt: Mit dramatischem Zugriff und expressiv. Im Laufe des Abends kann das Philharmonisches Orchester Hagen seine Vorzüge ausspielen, nämlich trotz der Enge des kleinen Grabens geschuldeter kleiner Besetzung leuchtende, ausdrucksstarke Streicher, von weich bis schrill stets angemessene Holzbläser mit berührenden Soli, kontrolliertes Blech und dies alles mit großer Transparenz und feinsten dynamischen Abstufungen. Und das Ballett? Hier orientiert sich Hüsers an Konwitschnys Hamburger Inszenierung und erzählt pantomimisch, wie (nun anders als in Hamburg) in einer besseren mystischen Welt (statt kleinbürgerlichen) die Protagonisten zu ihren eigentlich bestimmten Partnern finden. Eine sinnvolle Lösung dafür, wie man diese Nummer mit der eigentlichen Handlung in Verbindung bringen kann, ohne wirklich dazuzugehören. Und ganz zum Schluss, während die Mönche singen „Alles Menschenwerk vergehet, selbst der Mächtigste muss fallen. Nichts besteht, was erdgeboren, alles wandelt sich in Staub“ und sich deshalb der weiße und der schwarze König erschüttert ihrer Endlichkeit bewusstwerden, nutzen Carlos und Elisabeth die Gelegenheit zur Flucht – ein hoffnungsvolles Ende! Das Premierenpublikum bedankte sich für diesen fast fünfstündigen großartigen Abend, der doch so schnell vorbei war, mit reichlich Applaus, in dem ein oder zwei Buhs für das Regieteam untergingen. Es gibt nur noch drei Vorstellungen!
Bernhard Stoelzel, 7. April 2025
Don Carlos
Giuseppe Verdi
Theater Hagen
Besuchte Premiere: 6. April 2025
Inszenierung: Francis Hüsers
Dirigat: Joseph Trafton
Philharmonisches Orchester Hagen
Folgevorstellungen: 11. Mai, 19. Juni, 13. Juli