Hof: „Die Gespräche der Karmeliterinnen“

Premiere: 11.3. 2017., besuchte Aufführung: 9.4. 2017

Größte Angst und größte Liebe

Die Heldin des Abends heißt Capucine Daumas. Nein, sie ist keine Märtyrerin, aber sie rettet die Aufführung. Besser hätte man vielleicht nicht zeigen können, dass es auf jedes Menschenleben ankommt – zumal in der Oper, in der auch das Wiederspiel von Individuum und Kollektiv verhandelt wird.

Poulencs „Gespräche der Karmeliterinnen“ also. Wer das Werk kennt, weiß, auf welcher emotionalen und ästhetischen Höhe hier die Probleme des Glaubens, der Freiheit, der Angst und des Terrors verhandelt werden, die weder 1793 noch 1957 noch 2017 inaktuell waren und sind. Die Geschichte der 16 Nonnen aus dem Konvent von Compiègne, die gemeinsam – und singend – aufs Schafott wanderten, auf dem sie vor einer, wie berichtet wird, ehrfürchtigen Menge hingemetzelt wurden, wurde von Francis Poulenc in eine außerordentlich klare wie impressive Tonsprache getaucht. Die Aufführung des Theaters Hof beweist, dass auch sog. „kleine Häuser“ in der Lage sind, dieses außerordentliche Stück Musiktheater in einer bannenden Inszenierung und in einer musikalisch packenden Aufführung ins Heute zu bringen, ohne allzu zeitgeistig auf die Mittel eines metaebenenmäßig entfesselten Interpretationstheaters zu setzen.

Oder anders: Der Regisseur Lothar Krause und seine Bühnen- und Kostümbildnerin Annette Mahlendorf vertrauen zunächst der historischen Schicht, um am Ende – im Sinne der literarischen Vorlage Gertrud von Le Forts – das Allgemeingültige des Stoffs eher zurückhaltend zu zeigen. Der Inszenierung ist jedoch schon von Beginn an, zumindest im Bühnenbau und dem Habit, die symbolische Abstraktion eingeschrieben: denn die Bühne imitiert kein Kloster des 18. Jahrhunderts. Eine (im übrigen herrlich illuminierte) Marienstatue muss reichen, um das sakrale Milieu anzudeuten. Wichtiger sind die massiven Säulen, die aus den geschlossenen Räumen, in denen sich wahre Seelendramen abspielen, strenge Hallen machen, in die die Männer der Revolution geschichtlich „richtig“ gekleidet einbrechen – und die Nonnen treten, historisch gleichsam „falsch“, im weißen Schleier auf. Nicht allein die freilich grau akzentuierte Blanche ist eine „Weiße“.

Blanche, die Graue: sie ist es, die ihre Angst in den Konvent mitnimmt, doch nicht über Gebühr pathologisiert wird. Diese Aufführung zeigt die Schwestern als Opfergemeinschaft, nicht als irres Kollektiv von Wesen, die ein falsches Leben im falschen Raum leben. Wenn Blanche, zunächst noch mit dem modischen wie ridikülen Schiffchen in der Perücke von anno 1789, auf der Bühne erscheint, meint man das zu spüren, was die Autoren des 18. Jahrhunderts als „zarte Regungen des Herzens“ bezeichnet haben. Diese Blanche, die sehr genau und stimmklar von Susanne Serfling als ängstliche, doch nicht als hysterische junge Frau gespielt wird, zeigt ihre seelischen Qualen fast diskret: bis zum vorläufigen, denn doch explosiven Zusammenbruch in der letzten Begegnung mit Mutter Marie. Stefanie Rhaue ist diese Frau, die man schon strenger, unnachgiebiger, ja unsympathischer auf den Bühnen gesehen hat. Dass sie am Abend am besten zu verstehen ist, verwundert nicht; die Stimmkultur dieser wie stets stark agierenden Sängerin ist an diesem Abend vergleichslos. Dass die erst vor wenigen Stunden eingeflogene Capucine Daumas innerhalb des deutschsprachigen Ensembles in ihrer Muttersprache singt, fällt insofern nicht immer auf. Wer vorher den Text las, der alles andere als trivial ist, war klar im Vorteil, aber auch so war es ein einziges Vergnügen, der fröhlich-naiven Constanze bei der Arbeit zuzuschauen, die beim Bügeln lieber kindlich herumtanzt und sich an die Hochzeitsfeiern ihres Dorfes erinnert. Ein Extraapplaus für diese wunderbare Interpretation der liebenswerte Constanze, die sich auch im Kloster nicht von ihrem Püppchen trennen kann – und für Elisabeth Hornung, die die alte, sterbende Priorin – bei aller Eingeschränktheit ihrer im Sopran begrenzten Mittel – im Bett wie auf dem Boden beeindruckend gestaltet. Gerade in dieser Szene merkt selbst der befleckteste Zuschauer, dass die Oper nicht allein eine Auseinandersetzung mit Problemen der Religion als auch des Lebens und der Angst an sich ist, der (anders, als es im Programmheft behauptet wird) jede Epoche gleich ist. Angst ist, um es mit einem religiösen Vokabular auszudrpcken, immer unmittelbar zu Gott. Die neue Priorin, Madame Lidoine, kann der alten übrigens das Wasser reichen: Inga-Britt Andersson hat, nach der schönen „kleinen Rede“, die so klein und unbedeutend nicht ist, im Schlussakt, dem Akt der größten Angst, der größten Liebe und der größten Stärke, ihre stärksten Momente.

Apropos „Liebe“: Beschreiben kann man diesen Abend nicht. Der Rezensent kann nur festhalten, dass hier mit szenischen Bewegungen, die gelegentlich zum Statischen tendieren – was dieser Interpretation absolut nicht zum Nachteil gereicht – ein Höchstmaß an psychischer Spannung erzeugt wird. Festzuhalten bleiben einzelne Tableaus: der letzte Gottesdienst mit dem Beichtvater, dem Poulenc eine überirdisch schöne Musik geschenkt hat, die zu Tode betrübte Blanche, mit dem Fragment des „kleinen Königs“, den sie gerade zertrümmert hat, im Schoß: eine bewegende Pietà, die schwarzweißen Film-Einblendungen mit der Erscheinung der Muttergottes, die plötzlich blutige Tränen weint. Wie auch nicht? Im berühmten Schlussbild geht die riesige Projektion in die Gesichter der einzelnen Nonnen über. Ich gebe gerne zu, dass es schon an dieser Stelle kaum möglich war, den Bildern „objektiv“ zu folgen. Am Ende aber bleiben sie alle auf einem riesigen Kreuz stehen; fällt das Fallbeil mit dem schrecklichen Ton, spritzt das Blut an ihren Hälsen auf. Märtyrerinnen von gestern, heute und morgen, in Paris und Ägypten, wo man hinschaut. Die Oper und ihre Inszenierung transzendieren den Mord an den Frauen auf fast unerträgliche, weil ästhetisch äußerst klare Weise.

Das Orchester trägt Wesentliches dazu bei; unter Arn Goerke spielen die Hofer Symphoniker meist diskret, Poulencs Subtilitäten genau ausleuchtend. Dass man sich an den „Boris Godunow“ erinnert, der hier vor nicht allzu langer Zeit von Goerke dirigiert wurde, ist kein Zufall: der Komponist hat sich bewusst auf die musikdramatischen Mittel und Motive des genialen Russen bezogen, ja sie zitiert. Auch die „Karmeliterinnen“ sind eine Choroper, doch anders als beim „Boris“ kann, ja muss man jede einzelne Sängerin nennen: Neben der Mutter Johanna der Katrin Valk und der Schwester Mathilde der Josephine Queck stehen und fallen am Ende Andrea Herold, Masako Iwamoto-Ruiter, Dong-Joo Kim, Zene Kruzikaite, Bärbel Kubicek, Malgorzata Kusmierz, Iwona Lukaszynska, Ulrike Rieß, Olga Skhodnova, Annett Tsoungoui und Aki Yamamura auf der Bühne. Die Männer aber sind, bis auf den Beichtvater (ein Glaubender, kein Fanatiker) des Karsten Jesgarz, brutal wie der Vater, der sinnigerweise zugleich den Kerkermeister spielt (James Tolksdorf) oder schwach wie der Bruder, der bei Benjamin Popson immerhin sehr schön zeigen darf, wie eine von Poulenc komponierte Puccini-Kantilene zu klingen hat.

Der Rest ist nicht Schweigen (obwohl er angebracht wäre), sondern langer Applaus eines Publikums, das nur ausnahmsweise in der Pause das Theater verließ – ein Applaus, hinein in die sehr ernsten Gesichter der Sängerinnen, die gerade eine Hinrichtung gespielt haben. Als Günter Krämer das Werk an der Deutschen Oper Berlin inszenierte, konnte man es erleben, dass zwischen dem Schlussakkord – der wie eine Frage anmutet – und Applaus ewig lange 11 Sekunden verstrichen. In Hof dauerte es nicht so lange, aber die Pause wäre, zumal nach diesem derart inszenierten und gesungenen Finale, angemessen gewesen. Man kann bekanntlich nicht alles haben, aber dass ein „Provinztheater“ eine szenisch und (von der Textunverständlichkeit einmal abgesehen) musikalisch derart spannende Aufführung zustande bringt, grenzt an ein kleines Wunder. Wie die Rettung der Aufführung durch Capucine Daumas, die an diesem Abend für ihre Kolleginnen nicht starb, sondern auf schönste Weise lebte.

Frank Piontek 10.4.2017

Fotos: H. Dietz Fotografie, Hof