Hof: „Viktoria und ihr Husar“

Premiere: 15.12.2018., besuchte Vorstellung: 27.1.2019

Seltsam – oder auch nicht: Im Theater Hof sieht der Rezensent von seinem Dienstplatz aus den bekannten Silbersee, der – von einigen wenigen jungen Damen abgesehen – nur von etlichen künstlichen Farbstellen akzentuiert wird. Dabei war die Operette von ihren Anfängen bis tief ins 20. Jahrhundert eine Gattung, die man(n) und wohl auch frau nicht anders als „extrem sexy“ bezeichnet hätte. Man(n) muss zwar nicht mit dem Operettenkenner und -aficionado Kevin Clarke der Meinung sein, dass alles, aber auch wirklich alles in der Operette Sex ist, aber wenn man sich ein Stück wie „Viktoria und ihr Husar“ in einer guten Aufführung anschaut, merkt man, wie vital dieses Genre bis zu jenem Zeitpunkt war, als die Nazis das Regime auch über die Schauspiel- und Operettenhäuser übernahmen. Denn erst mit ihnen und den Bearbeitungen, die die Meisterwerke im Film (wofür die 1954er-Fassung der „Viktoria“ ein besonders gutes, weil schlechtes Beispiel ist), in den Rundfunkanstalten und auf den Bühnen der Wirtschaftswunderjahre erfuhren, konsolidierte sich die Sicht auf die Operette: Sie sei doch eher was für Opas und Omas. Dabei schauen sich gerade Opas besonders gern die Beine jener jungen Damen an, die wieder über die Bühnen tanzen – und wer das Titelbild des Programmhefts zu „Viktoria und ihr Husar“ anschaut, erblickt eine fesche Pilotin in Leder. Opas Operette? „Unterhaltung findet ausschließlich in der Gegenwart statt“, heißt es im Programmheft. Die Musik aber klingt umso frischer, je originaler man sie spielt: im Sound der „Roaring Twenties“.

Als vor 15 Jahren mit der „Blume von Hawai“, also der zweiten der drei Meisteroperetten Paul Abrahams, eine besonders grässliche, daher leider auch unvergessliche Inszenierung eines Paul-Abraham-Stücks auf die Hofer Bühne kam, geriet der Abend so falsch und öde, dass sich im jugendlichen (ähäm…) Rezensenten der Eindruck bildete, dass diese Stücke heute zurecht kaum noch gespielt werden. Inzwischen haben spannende Inszenierungen der Werke, deren Musik – wie die des „Ball von Savoy“, der erst vor acht Tagen eine gute Premiere in Nürnberg erlebte – von Henning Hagedorn und Matthias Grimminger „bühnenpraktisch rekonstruiert“ wurde, gezeigt, dass Abraham ein erstklassiger Repräsentant der Operette der späten 20er Jahre war: mit allen Eigenheiten, die ihn zugleich zu einem modernen wie stilistisch gebrochenen Komponisten machen. Man wird einer „Viktoria“ eben nicht gerecht, wenn man sie mit einer „Fledermaus“ oder einer „Lustigen Witwe“, nicht einmal dann, wenn man sie mit einem fast gleichzeitig komponierten „Land des Lächelns“ oder einer „Frau, die weiß, was sie will“ vergleicht. Abrahams (erfolgreiches) Prinzip lief darauf hinaus, das Beste aus verschiedenen Richtungen zu kompilieren: schluchzenden Geigenton, Wiener Walzersentiment, Fox-Nervosität, Blödsinnsverse der 20er und das, was man damals unter „Jazz“ verstand: synkopierte Rhythmen, Saxophone, drei Klaviere im Orchester, wahlweise einen kräftigen Schuss Exotismus, wie er in den 20ern en vogue war, nicht zuletzt – in der „Viktoria“ – gehörig viel Anti-Bolschewismus. Ja, „Viktoria und ihr Husar“ ist eine aktuelle Zeit-Operette gewesen. Sie wirkt heute noch: weniger durch manch sexuellen Witz, der in Zeiten der Me-too-Debatte abgestanden ist (und der in der Inszenierung unkommentiert und meist auch unbelacht stehen blieb) als durch die Melodien, die tatsächlich (und auch das war in der damaligen Hofer „Blume von Hawai“ nicht zu hören) brillant instrumentiert wurden. Sie hat auch dort ihre Berechtigung, wo manch Operettenführer darauf hinweist, dass das Thema des Stücks – eine Frau zwischen zwei Männern, ein Mann, der um seine Geliebte kämpft – völlig unwichtig und trivial sei. Zugegeben: „Auch das steife Fräulein Logik / ist nicht immer eingeladen“, wie einer der beiden deutschen Librettisten, Alfred Grünwald, in seinem bekannten Gedicht zur Uraufführung des „Ball im Savoy“ schrieb, aber wieso sollte eine Dreierbeziehung uninteressant sein? Verhielte es sich so, dürfte man mindestens die Hälfte aller Meisteropern nur noch musikalisch reflektieren – und den Regisseuren wäre es lediglich aufgegeben, mehr oder weniger schöne szenische Arrangements herzustellen.

In Hof inszeniert man, mit den Mitteln des vergleichsweise „kleinen“ Hauses, eine optisch eher zurückhaltende Ausstattungsoperette, in der in jedem Akt ein großes Symbol den Bühnenbau ausmacht: in Sibirien, wo Rittmeister Koltay und sein (natürlich komischer) Diener in Gefangenschaft sitzen, der Sternenhimmel der Liebessehnsucht, in Japan, wo John Cunlight und seine Frau ein schönes Botschafterpaar abgeben, eine abstrahierte Kirschblüte, im sowjetischen Petrograd, wo die Protagonisten inzwischen hinverschlagen wurden, eine zerspellter Stern, in Ungarn, wo man sich schließlich wieder lebend und endlich glücklich wiederfindet, eine Riesenpaprika, auf der der besoffene und notgeile Bürgermeister sitzen kann, weil der obere Teil abgeschnitten wurde und leicht provokant auf der Bühne herumsteht. Die Aufführung funktioniert jedoch nicht aufgrund der Bilder. Sie glückt deshalb, weil der Regisseur

Tobias Materna den Konflikt, der so typisch ist für die großen Abraham-Operetten, Ernst genommen hat – ohne freilich ein Kammerspiel à la Konwitschny zu inszenieren.

Er hat „nur“ mit Karsten Jesgarz einen John Cunlight zur Verfügung, dem man den noblen Menschen und Grandseigneur abnimmt, der sich überwindet, als er die Ehefrau dem ehemaligem Geliebten in einem Akt der Entsagung überlässt. Das erste Walzerduett, zusammen mit dem Sopranglück Inga Lisa Lehr – „Pardon, Madame, ich bin verliebt“, das hat den eleganten Rhythmus des „Toujours l’amour“ aus dem „Ball in Savoy“ – gerät schon zu einem der Höhepunkte der Aufführung. Wenn am Ende des zweiten Akts, im sog. „tragischen Finale“, „Reich mir noch einmal zum Abschied die Hände“ gesungen und dann, wie in einer Erinnerung, noch einmal vom einsamen Ehemann gebracht wird, wobei der Operettenfreund an die „Mädis vom Chantant“ denken kann, die im Munde des zurückbleibenden Fery Basci unendlich traurig klingen – wenn am Ende des Akts also das berühmte Duett gesungen wird, zieht, man spürt das, Bewegung durchs Publikum. Ist das nur „Kitsch“, wie es der strenge Werkartikelschreiber in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters dekretiert? Wer „Kitsch“ in der Operette kritisiert, sollte zuhause bleiben und „Die Kunst der Fuge“ studieren.

Vorher war bereits Russland; das Geigensolo, der Zigeunerschmelz, die Kantilene des Tenors

Minseok Kim, im Elend der finsteren Landschaft, durch die sich der Chor operettendepressiv, aber auf eigene Weise einheimelnd, durcharbeitet, ist vor dem Sternenhimmel so beeindruckend wie die Traumerscheinung der Geliebten in jener ungarischen Nationaltracht, die sie über zwei Stunden später wieder tragen wird: als Hochzeiterin des „Richtigen“.

Was wäre die Operette ohne die Komiker? Die Operette funktioniert, so einfach ist das, aufgrund ihrer Besetzung. Markus Gruber und Marina Medvedeva sind als Janczy und Riquette, die falsche französische und doch so richtige ungarische Kammerzofe Marika, schlicht und einfach – phänomenal. Das Timing der Beiden ist perfekt, ihr Zusammenspiel funktioniert wunderbar, und selbst die plumpsten Zutraulichkeiten, die man 1932 lustig fand, werden mit Nonchalance über die Bühne gebracht. Gleichermaßen witzig: die Beziehung des Europäers Ferry Hegedüs, also des Bruders der Titelheldin, zur Japanerin O Lia San. Thilo Andersson und Laura Louisa Lietzmann werfen sich in ihre 20er-Jahre-Schlager, in denen sich „Mama“ auf „Yokohama“ reimt, dass es kracht (und lacht). „Mausi, süß warst du heute nacht“: nicht nur Frischverliebte dürften diesen denn doch nicht ganz sinnfreien Kokolores goutiert haben. Wie gesagt: Die Operette an sich ist sexy. Dafür stehen nicht allein die Kleiderausschnitte, die Lorena Ayleen Díaz Stephens und Jan Hendrik Neidert auf Frau Lehrs Leib geschneidert haben. Die wichtigste Nebenrolle aber ist eine Hauptrolle, weil Christian Seidel als Butler „James“ gefühlte zwei Stunden auf der Bühne steht und, wie im Nebenbei, Gegenstände auffängt, die millimeter- und sekundengenau über die Bühne fliegen. Komik ist Timing, sonst nichts. Auch bei ihm, wie beim grandiosen Gruber-Medvedeva-Paar, konnten wir es erleben.

Gleichfalls viel zu tun hat der gute Opernchor, der unter der Leitung von Roman David Rothenaicher in die verschiedensten Kostüme springt, schön blöd und vielleicht ein bisschen zu klischiert, aber gut japanisch über die Bühne trippelt, bei „Reich mir zum Abschied“ in einen sehr sehr langsamen Walzer gerät und sich am Ende noch ins touristenaffine Ungarnkostüm zu schmeißen hat – elegante Tänze, choreographiert von Barbara Buser, inbegriffen. Und wie spielt nun das Orchester der Hofer Symphoniker unter Daniel Spaw? Wer sich den Film von 1931, mit der schönen Friedel Schuster als Viktoria vergegenwärtigt, den man glücklicherweise auf Youtube anschauen kann – https://www.youtube.com/watch?v=dXe8ab4x_8g -, bekommt eine Ahnung davon, wie die Partitur damals geklungen haben muss. Die Hofer klingen natürlich bedeutend weniger scheppernd, doch nicht unidiomatischer. Zwischen Zigeunerschmelz und Japangong, Foxtrottblech und Walzergeigen, „Ungarland!“ und Mausisex ist viel Platz – auch in Hof. Nur schade, dass die vorgeschriebene Verdunkelung des Orchestergrabens in der Überleitung zwischen dem Sibirien-Vorspiel und dem Japan-Bild nicht realisiert wurde. Es wäre optisch so schön gewesen wie es klang: überraschend.

Frank Piontek, 28.1.2019

Fotos: ©H. Dietz Fotografie