Besuchte Aufführung: 23. 4. 2013 (Premiere in Ludwigshafen: 21. 10. 2011)
Blochs Prinzip Hoffnung bleibt Utopie
Mit großem Erfolg wurde im Pfalzbau Ludwigshafen die erste zyklische Präsentation von Wagners „Ring“-Tetralogie fortgesetzt. Hansgünther Heyme s von großer Spannung und Stringenz geprägte Inszenierung der „Walküre“ war Musiktheater vom Feinsten und legte wieder einmal beredetes Zeugnis von den genialen Fähigkeiten von Regiealtmeister Heyme ab. Dass er mit Sängern wunderbar umzugehen weiß, hat man ja schon immer gewusst. Das war an diesem gelungenen Abend nicht anders. Einfühlsam nahm Heyme seine Gesangssolisten bei der Hand und bettete sie in sein zeitgenössisches Konzept ein, das hervorragend durchdacht war und von vorne bis hinten gut nachvollziehbar war. Dabei griff er geschickt den im „Rheingold“ begonnenen Faden auf und spann ihn mit großem Geschick und Können fort, sodass es nie langweilig wurde. Leerläufe stellten sich an keiner Stelle ein. Alles wirkte wie aus einem Guss.
Der geistige Überbau, den Heyme seiner Interpretation angedeihen ließ, gründete wie bereits im „Rheingold“ auf dem Gedankengut von Ernst Bloch. Auf dem vom Vorabend her bereits bekannten „Vorhang der Hoffnung“, der zusammen mit der ebenfalls wieder erscheinenden „Wand des Todes“ ein bildliches Leitmotiv über alle vier Abende bildet und die vier Inszenierungen visuell miteinander verbindet, prangt das Postulat „Dahinter die Tagtraumwelt einer immerhin gestaltbaren Möglichkeit“ des Ludwigshafener Philosophen, dessen zwischen 1938 und 1947 entstandenes Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ den philosophischen Kern der Produktion bildet und seine Wurzeln bei Hegel, Marx und über letzteren auch bei Feuerbach hat. Die Kategorie Möglichkeit spaltet sich nach Bloch in zwei Aspekte: Er unterscheidet zwischen dem „Nach Möglichkeit-Seienden“ und dem „In-Möglichkeit Seienden“ und nimmt diese Abgrenzung als Ausgangspunkt für eine Differenzierung in seiner Gesellschaftsanalyse. Genau dasselbe tut Heyme, wobei er insbesondere auf die zu ziemlich dekadenten Nachtclubbetreibern mutierten Götter ein ziemlich kritisches Licht wirft. Seine Zustandsanalyse der heruntergekommenen Asen-Oberschicht, die eingehende Betrachtung ihrer politischen Machtverteilung, an der – am Beispiel Frickas gezeigt, deren Streitgespräch mit Wotan man selten so spannend erlebt hat wie bei Heyme – auch emanzipierte Frauen ganz gehörig partizipieren, zeugt von der großen Weisheit des Regisseurs, der über eine beeindruckende philosophische Ader verfügt und sich mit den Lehren Blochs wohl intensiv beschäftigt hat. In Anlehnung an diesen seinen wahrscheinlichen Lieblingsphilosophen geht er mit fundamentalem Weitblick und scharfem analytischem Sachverstand vor und entlarvt die auf der Bühne vorherrschenden Verhältnisse gekonnt als den von Bloch ins Feld geführten „Kältestrom“. Demgemäß mutet die im zweiten Aufzug gezeigte Bar, in der sich Wotan auch gerne einmal mit zwei leicht bekleideten Animiermädchen vergnügt, kalt und eisig an. Es bleibt nur die Option eines harten, marxistischen „Nach-Möglichkeit-Seienden“.
Dieses steht im starken Kontrast zu der Liebe der Wälsungengeschwister, die auf der Hoffnungsseite der objektiv-realen Möglichkeit, also in dem „In-Möglichkeit Seiendem“ stehen und als „Wärmestrom“ aufzufassen sind. Bei der Zeichnung des Zwillingspaares gelingen Heyme sehr eindringliche, gefühlsbetonte Momente von großer Eindringlichkeit. Siegmund und Hunding deutet er als zwei miteinander verfeindete Anführer einer Motorrad-Rocker-Bande, die bereits während des Vorspiels unter laut aufheulendem Motorengeräusch ihrer Krafträder ihren Zwist austragen. Die im Untergang befindlichen Götter haben bereits jetzt fast allen Einfluss verloren. Ihre Göttlichkeit verflüchtigt sich und mündet in einen Auflösungsprozess Beckett’scher Prägung. Das Ganze ist ein Endspiel Wotans. Nicht er und seine Mit-Asen beherrschen länger die Welt, sondern gewalttätige Gangs, die verzweifelt und mit äußester Brutalität um das nackte Überleben kämpfen. Planmäßiges, strategisch überlegtes Handeln findet nicht mehr statt. Es wird nur noch unwillkürlich und situativ auf die hereinbrechenden desolaten Umstände reagiert. Hier warte Heyme mit einer brillanten Gesellschaftsstudie auf, die auch auf unsere Gegenwart zutrifft. Das Sozialverhalten der Menschen untereinander wird zunehmend von existenziellen Kämpfen bestimmt, wobei ständig latent vorhandene pure Gewalt sowie der Umgang mit ihr allmählich alle Grenzen sprengt. Nachhaltig schreit der Regisseur seine Warnung in den Raum, dass jede menschliche Gemeinschaft einer Ordnung bedarf. Ohne staatlichen Zusammenhalt, Recht und Gesetz würde Chaos ausbrechen. Und das darf nicht sein. Wotans Urfrevel an der Weltesche und damit an der Natur frisst sich auf diese Weise bis in die Grundfesten des Gesellschaftssystems fort und zerstört es immer mehr. Hinter die Möglichkeit des Überlebens wird ein großes Fragezeichen gesetzt. Kein Wunder, dass die Erdenbürger unter diesen Voraussetzungen in regelrechte Verzweiflung verfallen. Als Sinnbild der unbarmherzigen Verhältnisse dient Heyme eine auf große Plastikfolien gesprayte „Wand der Verzweiflung“, die das Gegenstück zu dem „Vorhang der Hoffnung“ darstellt. Vor ihr kniet zu Beginn Sieglinde. Die ziemlich grausig aussehenden Abbildungen auf der Wand symbolisieren ihre Ängste, ihre Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, aus der sie erst Siegmund erlöst. Zu Beginn der „Winterstürme“ entschwebt die „Wand der Verzweiflung“ unvermittelt in Richtung Schnürboden. Anhand des Wälsungenpaares wird hier in Anlehnung an Bloch das Prinzip Hoffnung neu formuliert, das sich aber letzten Endes nicht erfüllen kann. Das – um es mit Bloch zu sagen – formal Mögliche durch diese Liebesbeziehung Siegmunds und Sieglindes ist eben, zumindest nach der berechtigten Ansicht Frickas, letzten Endes doch nicht möglich, weil Inzest eben formal nicht zulässig ist. Die durch das auf dem „Vorhang der Hoffnung“ prangende Bloch’sche Zitat eröffnete Option der Entwicklung einer besseren Welt wird von den Handlungsträgern indes nicht genutzt. Sie bleiben weiter in einer Welt der Nacht, der Resignation und der Ausweglosigkeit gefangen. Sie mögen sich so oft sie wollen in die Wartehalle des im Schlussbild des zweiten Aufzuges gezeigten Flughafens begeben. Start und Abflug fallen aus. Das von Bloch propagierte Prinzip Hoffnung bleibt Utopie.
An dieser traurigen Tatsache vermögen auch die Helden nichts zu ändern, die von den durch ihre unterschiedlichen Perücken gekonnt individualisierten Walküren im dritten Aufzug eingesammelt werden. Wenn die Wotans-Töchter auf einem Laufsteg die in kleinen Kästen aufbewahrten Überbleibsel der gefallenen Heroen zur Schau stellen und diese anschließend in den Fächern der „Wand des Todes“ verstauen, ist das eine ziemlich makabre, aber vielleicht doch berechtigte Kritik an einer übermäßigen Heldenverehrung. Der Walkürenritt erhält dadurch einen ausgesprochen zynischen Charakter. In der Schlussszene des Musikdramas lässt Heyme dann noch geschickt Tschechow’sche Elemente in seine Interpretation mit einfließen, wenn er die acht Walküren bis zum Ende auf der Bühne belässt und sie dem Zwiegespräch zwischen Wotan und Brünnhilde, die im Unterkleid eingeschläfert wird, lauschen lässt. Das war alles sehr überzeugend und von Heyme mit einem Höchstmaß an technischer Versiertheit umgesetzt.
Auch die musikalische Seite der Aufführung vermochte voll zu überzeugen. Wie schon im „Rheingold“ legte GMD Karl-Heinz Steffens den Focus nicht auf pure Kraftmeierei und überschwängliches Pathos, sondern animierte die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz zu einer schlanken, transparenten Tongebung von großer Klarheit und dynamischer Ausgewogenheit in straffen Tempi, wobei er auch auf die Bedürfnisse der Sänger Rücksicht nahm. Wie schon beim „Rheingold“ war zu konstatieren, dass sich die Qualität dieses eigentlichen Konzertorchesters, das mit Oper noch nicht so viel Erfahrung hat, seit der Premiere im Oktober 2011 immens gesteigert hat. Der Zusammenklang war weit besser als damals und die Fähigkeit der Musiker, sich dem Charakter der anderen Instrumente anzupassen, hat ebenfalls zugenommen. Dass indes auch an diesem Abend die mäßige Akustik des Pfalzbaus wieder negativ zu Buche schlug, war schade. Da sich dieser baulich bedingte Nachteil nicht ausmerzen lässt, wird er in den noch folgenden Rezensionen von „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ als bekannt vorausgesetzt.
In der Titelrolle hinterließ Lisa Livingston einen zwiespältigen Eindruck. Ihre Brünnhilde zeichnete sich in Mittellage und Tiefe durch einen durchaus gut profundierten Stimmklang aus. Insbesondere bei den höher gelegenen dramatischen Stellen verlor ihr Sopran aber zunehmend an Körperstütze und nahm manchmal einen recht keifenden Klang an. Zudem neigte sie bei den Spitzentönen etwas zum Distonieren. Sie war leider der Schwachpunkt in einem ansonsten vorzüglichen Ensemble, das den Vergleich mit dem größerer Opernhäuser wahrlich nicht zu scheuen braucht. In der Vermittlung der Verzweiflung und der großen Vaterliebe Wotans war Gérard Kim ganz groß. Mit seinem vortrefflichen Bass italienischer Schulung zog er alle Register seiner Rolle und bewältigte die extremen Höhenflüge des Obergottes ebenso tadellos wie die tief gelegene Erzählung im zweiten Aufzug. Vor dieser Szene war ihm die sehr damenhaft auftretende, voll und tiefgründig singende Fricka von Julia Faylenbogen eine gleichwertige Gegenspielerin. Zu begeistern wusste Thomas Mohr, der sowohl die dramatischen Ausbrüche als auch die herrlichen Lyrismen des Siegmund mit wunderbarem, bestens focussierten, klangfrischen und ausdrucksstarken Tenor bewundernswert zum Besten gab. Dass sein schöner Tenor am Ende des ersten Aufzuges für ganz kurze Zeit ein wenig brüchig wurde, fällt angesichts der imposanten Gesamtleistung nicht ins Gewicht. Mehr lyrischer als dramatischer Natur war der Sopran von Carola Höhn, der sich aber durch einen soliden Sitz auszeichnete und zu großer Emphase fähig war. Und Christoph Stegemann verströmte als Hunding so viel italienisch fundierten edlen Basswohllaut, dass man von ihm gerne noch mehr gehört hätte. Gemischte Gefühle hinterließ die aus Ines Lex (Gerhilde), Anke Berndt (Ortlinde), Uta Christina Georg (Waltraute), Eva-Maria Wurlitzer (Schwertleite), Susanne Gasch (Helmwige), Susanne Wild (Siegrune), Sandra Maxheimer (Grimgerde) und Melanie Hirsch (Rossweiße) bestehende Walkürenschar. Da gab es gut sitzende, aber leider auch reichlich dünne Stimmen, die besser im Körper hätten verankert sein müssen.
Ludwig Steinbach, 24. 4. 2013
Die Bilder stammen von Gert Kiermeyer.