Vorstellung am 30.11.12
Mythos und Moderne
Wurde der große Philosoph der Hoffnung, Ernst Bloch, in der Industriestadt am Rhein geboren, so hat sich die mit der Götterdämmerung glücklich beendete „Ring“-Produktion, die nun in einer bemerkenswerten „deutsch-deutschen Koproduktion“ (so Eva Lohse, die Oberbürgermeisterin Ludwighafens) an ein glückliches Ende geführt wurde, dem Denken des poetisierenden Dichters unter den Philosophen ganz der Hoffnungs-philosophie verschrieben. Also sehen wir wiederum jenen „Vorhang der Hoffnung“, den wir noch seit dem „Rheingold“ in Erinnerung haben – doch nun sind die Sätze Ernst Blochs zu überschriebenen Fragmenten geworden. „Tagtraum“, „Hoffnung“, „Arbeit“, „Erstarrung“ – die Begriffe machen im Rahmen des „Weltuntergangscouplets“, wie Wagner das Finalstück nannte, einen eigenen Sinn. Es ist kein Zufall, dass der tote Siegfried, an dem alle Hoffnung auf ein erneuertes, humanisiertes Menschengeschlecht zerschellte, mit jenem Vorhangteil zugedeckt wird, das die „Erstarrung“, nicht das „Überdauern“ markiert.
Es ist kein Zufall – weil der Regisseur Hansgünther Heyme auch diesen „Ring“-Teil wieder sehr plakativ, doch in aller Plakativität zugleich sehr subtil inszeniert hat. Wieder stehen ihm Sängerdarsteller zur Verfügung, die – meistens – erstklassige Rollenporträts realisieren: allen voran Andreas Schager, dessen „junger Siegfried“ zu Begeisterungsstürmen Anlass gab, und der auch in der vergleichsweise „heroisch“ angelegten Partie durch lyrische Töne überrascht (aber auch er muss aufpassen, dass ihm die Partei auf die Dauer nicht die Stimme abschmirgelt): weil er in aller problematischen Wandlung noch einen Rest von Naivität und unbewussten Skrupeln bewahrt hat. Erschütternd die Szene, in der die Mannen mit jenen toten Tieren auf die Bühne kommen, mit denen Siegfried einst in natürlichem Frieden kommunizierte – und vor deren Kadavern er nun in Bestürzung steht.
Die Brünnhilde der Lisa Livingston hat sich optisch vom walkürenhaft Kämpferischen in das rein Weibliche verwandelt, wie es sich Wagner vorgestellt haben mochte: das Dauervibrato ihrer Stimme unterstreicht dieses Feminine in einer Weise, die der Partie etwas reizvoll Flackerndes verleiht: Brünnhildes einseitig unbedingter Dezisionismus verträgt durchaus diese Dauernervosität des Vokalorgans. Anke Berndt singt eine eigentümlich gefärbte, mädchenhafte wie divenhafte Gutrune (im Kostüm einer Madonna, dann als Sexy Woman). Schade, dass Gerd Vogels Gunther (und Alberich) zwar ein eindeutig knalliges, präpotentes Rot am Leibe trägt, doch merklich mit den Tonhöhen zu kämpfen hat und der Hagen Gerd Vogels nicht in jedem Moment die dynamische Kraft besitzt, um das Orchester zu übertönen – dabei agiert die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz wieder auf allerhöchstem Niveau. Die Akustik des Pfalzbaues sorgt dafür, dass selbst die schweren Blechblasattacken der Streit- und Schwurszene des zweiten Akts elegant in den Saal klingen. Soviel subtile Klangschat-tierungen, soviel glasklare, kontrapunktische Linienarbeit, soviel meditativ bezwingende Ruhe in manch Orchesterpassage ist nicht in jedem Haus zu hören. Schon deshalb sollte man sich diese „Götterdämmerung“ nicht entgehen lassen. Obligatorisches Lob für das meist extrem klar artikulierende Nornenterzett und die Rheintöchter, diese maskenhaften Vertreterinnen eines Ancien Régime. Die Waltraute der Gundula Hintz gibt zuletzt das dramatisch und vokal erfüllte I-Tüpfelchen dazu.
Ist diese Welt zu retten? Heyme, der – man mag das für „Altersweisheit“ halten – weniger auf politische Eindeutigkeiten als auf menschlich diffizile Verhältnisse setzt, geht den mit dem „Rheingold“ angelegten Weg konsequent weiter: noch kurz vor Schluss ziehen sie Siegfried die Schuhe aus, um sie in einem der vielen Asservatenkästen zu deponieren: auch er einen Nummer unter den namenlosen Toten. Es war nur der Vor-Schein einer Hoffnung: die Sterne, die in der Abschiedsszene des Vor-Spiels die düstere Mauer romantisieren – doch schon zuvor war das Seil des Wissens gerissen: wobei das Flackern des letzten Lichts auch den Zuschauerraum, also uns selbst schlaglichtartig erleuchtete. Heyme gelang es – und dies ist eine der großen Leistungen dieser „Ring“-Deutung – den Mythos mit der Moderne zu versöhnen. Nornen, Rheintöchter, Götterwesen – sie haben ihre Auftritte, um als surreale Fremdkörper nicht zu stören, sondern fantasievoll zu irritieren. Grane, die Figuration Wotans, hat einige längere Sequenzen: ein Mensch mit Pferdekopf und Vogelflügeln, der im erhofften Feuer der Reinigung untergehen wird. Wenn Brünnhilde schließlich Wotans Raben gen Walhall schickt, dann sehen wir tatsächlich zwei Raben – und zwei schwebende Wesen, die zwischen Erde und Himmel vermitteln. Sind es schon die Seelen von Siegfried und Brünnhilde?
Auch diese „Ring“-Inszenierung kann nicht alle Fragen beantworten, die zumal das von Wagner projektierte Finale einem Regisseur aufgibt. Am Schluss steht, es muss so sein, das Ende – und für das Ende sorgt nicht, wie Wotan noch im zweiten Akt der „Walküre“ erhoffte, Zwerg Alberich, sondern Brünnhilde. In dieser „Götterdämmerung“ ist das nicht anders. Steht am Ende wirklich die Hoffnung? Hoffnung kann auch, Bloch hat immer wieder darauf hingewiesen, enttäuscht werden. Die Menschen, die da am Ende hinter der endlich gedrehten Bühne nach vorn kommen – Militärs mit Soldatenmützen der 20er Jahre und Frauen mit Kostümen, die an Blusen und Röcke der 30er Jahre erinnern -, stehen in Erstarrung und schauen, so wie die Männer und Frauen, die in der Inszenierung Patrice Chéreaus während des Trauermarsches und der Schlusstakte in den Bayreuther Zuschauerraum schauten. In Ludwigshafen beginnen sie plötzlich, wenn der Applaus schon prasselt, in Zeitlupe zu klatschen.
Der Vorhang zu und alle Fragen offen? Nicht alle – aber es sind diese reizvollen Rätselbilder, die aus dem Ludwigshafener/Hallenser „Ring“ einen interessanten machen, der im alten Stück noch neue Aspekte entdeckt.
Frank Piontek
Fotos: Goldmann Public Relations e.K., Friedrich von Plettenberg.