Nordhausen: „Andrea Chénier“

Premiere am 25.01.2013

Gescheiterte Revolution – gescheiterter Revolutionär

Auch nach der Thüringer Theater-Reform hat das Land zusammen mit Mecklenburg-Vorpommern noch die größte Musiktheaterdichte in Deutschland. Als „Hausorchester“ fungiert das Loh-Orchester aus dem unweiten Sondershausen, und das Musiktheater bespielt auch das 125 km entfernt liegende Theater in Rudolstadt. Es werden anspruchsvolle Musiktheater-Produktionen herausgebracht. So wagte man sich jetzt an Umberto Giordanos André Chénier, ein Werk des italienischen Verismo im weiteren Sinn, das 1896 vier Jahre vor Puccinis Tosca uraufgeführt worden war, was insofern erwähnenswert ist, da beide Opern mit Luigi Illica den gleichen Librettisten haben, über thematische Ähnlichkeiten verfügen und die gleiche Personenkonstellation haben: eine Frau zwischen zwei Männern, von denen einer ein Künstler und der andere ein politisches Monster ist. In beiden Fällen wird – klassisch für einen Opernstoff seit dem Barock – die Liebesbeziehung durch eine politische Konstellation durchkreuzt. Beides sind politisch-historisch Dramen (daher auch nicht dem engeren Verismo zuzurechnen) mit historisch genau verortbarem Hinter-grund. Illica hat das Andrea-Chénier-Libretto aber nach dem Erscheinen von Sardous Tosca verfasst, so dass ein Einfluss nicht ausgeschlossen werden kann.

Wegen der deutlich mehr Nebenrollen (insgesamt sind 14 Rollen verzeichnet gegen neun in der Tosca) ist es für ein kleines Theater ungleich schwieriger, den Chénier zu besetzen. Die Nebenrollen im Chénier haben zudem dramaturgisch ein höheres Gewicht, so dass das gesamte Werk weniger fokussiert ist. Dazu kommt die zeitlich größere Ausdehnung (bei Tosca nur deutlich weniger als 24 Stunden, im Chéniewr fünf Jahre). Vielleicht erklärt sich somit aus dem dramaurgischen Kontext heraus die deutlich geringere Durchschlagskraft und Beliebtheit des Chénier. Denn an der Musik kann es nicht liegen; die ist zudem stilistisch in langen Passagen mit der von Puccini verwandt.

vorne: Anja Daniela Wagner (Gräfin di Coigny), Hugo Mallet (André Chénier), Sabine Mucke (Maddalena di Coigny), Opernchor

Um es vorwegzunehmen: das Wagnis des Theaters Nordhausen, sich an dem deutlich schwierigeren Stoff abzuarbeiten, kann man als geglückt bezeichnen. Die Regie führt Toni Burkhardt, der Oberspielleiter am Theater. Er stellt nicht die Titelfigur, sondern dessen Gegenspieler, den Revolutionär Carlo Gérard ins Zentrum des Geschehens und zeichnet dessen Entwicklung vom Kindergespielen der Maddalena di Coigny und vom livrierten Diener derselben über den Aufmüpfer und Revolutionsführer mit Machtfülle bis hin zum gescheiterten Revolutionär in der gescheiterten Revolution. Gescheitert die Revolution, weil sie in Diktatur mündet; gescheitert der Revolutionär, weil er einen anderen Lebensentwurf darüber stellen wollte. Chénier wird zum Opfer der Willkür, Maddalena opfert sich selbst.

Gustavo Zahnstecher (Mathieu), Kai Günther (Carlo Gérard), Bersi (Brigitte Roth), Ensemble

Es gibt keine Hoffnung in dieser Geschichte, die zudem noch mit etlichen zweifelhaften Gestalten ohne Sympathiewert versehen ist. Als Sieger fühlen sich entfesselte sensationsgeile mordlustige Meute und diejenigen, die sich zu Führern der Revolution erklärt haben. Und eigentlich sind alle Revolutionen so verlaufen… Auf dem Bühnenbild von Wolfgang Kurima Rauschning sind zuletzt Portraits von denen aufgebaut: Robespierre, Napoleon, Lenin, Stalin, Fidel, Che Guevara, Mao… Demgegenüber stehen Elendsfotos leidender Bevölkerung und zwei Situationsbilder: der Sturm auf di Bastille und der 17. Juni. Haben Sie noch Lust auf Revolution?

Kai Günther (Carlo Gérard), Marian Kalus (Incredibile)

Die Regie legt die Handlung ziemlich klar an das Ende des 18. Jhdts, fügt aber Versatzstücke hinzu, die auf die jeweils späteren „Revolutionen“ verweisen und den Stoff zeitlos machen. Noch nach jedem dieser „großen“ Ereignisse hat das Volk hinterher genauso oder noch mehr gehungert als vorher; nur die Klasse der Saturierten ist eine andere geworden. Die Regie hebt nicht den Zeigefinger „aufgepasst, so muss es sein!“ sondern zeigt dem Zuschauer etwas fatalistisch: „so läuft es eben“. Die Massenszenen sind eindrücklich choreographiert, bei den Einzelauftritten geht es hingegen manchmal etwas statisch und ungelenk zu. Auch Überflüssiges findet auf der Bühne statt: z.B. läuft da noch eine Kleinmädchen-Maddalena herum; solch ein Mätzchen ist zwar gerade en vogue, lenkt aber bloß ab. Insgesamt aber eine spannende Regiearbeit mit überzeugend gezeichneten Personen.

Kai Günther (Carlo Gérard), Sabine Mucke (Maddalena)

Das Bühnenbild zeigt zuerst einen schönen klassizistischen Salon über Eck. Beim Hereinmarsch der Hungernden zerfällt das schöne Bild und öffnet den Blick auf die Straße draußen. Die verbliebenen Wandelemente dienen fortan auch als Projektionsfläche für Videos mit Straßenszenen aus Revolutionen verschiedener Epochen. Die Struktur des großen Raumes über Eck wird dabei für die folgenden Bilder beibehalten: die Straßenszene, das Revolutionstribunal und das Gefängnis. Die Kostüme sind von Udo Herbster, ausdruckskräftig gestaltet und dazu mit Aussagen versehen: die moribunde Fassadenwelt des ancien régime spiegelt sich in den Louis-XVI-Kostümen, wohingegen die Kostümierung des Paares Andrea-Maddalena im Biedermeier-Entwurf auf die bürgerliche Gesellschaft verweist. Gérard trägt gar einen Anzug der Gegenwart. Dazwischen sieht man in den Volkshaufen des Chors und bei den Nebenfiguren eine Vielzahl von fantasievoll gemachten Verkleidungen. Das Theater hat hier keinen Aufwand gescheut. Dass es der Regie nicht auf punktgenaue Historizität ankommt, zeigt auch die Szene, in welcher er sich das revolutionäre Volk angelehnt an Delacroix‘ Gemälde „La liberté guidant le peuple“ (Die Freiheit führt das Volk) gruppieren lässt; das stammt von 1830.

Gustavo Zahnstecher (Mathieu), Yoontek Rhim (Fouquier-Tinvill, Ankläger), Hugo Mallet (André Chénier), Ensemble

Das Loh-Orchester Sondershausen begleitete das Geschehen präzise und konzentriert aus dem Graben unter der Leitung des GMD Markus L. Frank. Es war mehr als eine Begleitung, denn das Orchester wirkte durchaus gestalterisch mit, wirkte streckenweise hochemotional, war dabei aber auch vielfach zu laut und zwang die Sänger zu zusätzlichen Anstrengungen, was von diesen aber durchweg gut gemeistert wurde. Hugo Mallet als Gast sang die Titelrolle mit klarem, kräftigem Tenor über das gesamte Register und glänzte mit strahlenden Höhen. Schauspielerisch blieb er mit Standardgestik und Einheitsmimik allerdings hölzern. Da brachte Sabine Mucke vom Nordhäuser Ensemble als Maddalena schon mehr Empathie mit; sie kam mit ihrem warm grundierten Sopran gut in die Rolle und ließ ihre Stimme leuchten; besonders schön im Duett mit Chénier. Nicht vom Glück verfolgt war in der dritten Hauptrolle als Carlo Gérard der Gastbariton Kai Günther. Mit prächtigem voluminös-rundem Stimmeinsatz setzte er selbstbewusst zu seinen ersten Takten an; dann wurde schnell klar, dass er indisponiert war. Das wurde in der Pause auch angesagt; seine Arie im dritten Bild übernahm von der Seite Yoontek Rhim. Kai Günther mühte sich, so gut er konnte; das Orchester gab ihm leider dabei gar keine Hilfe. Zum Schluss schaute er kreuzunglücklich drein. Wir wünschen seiner Stimme alles Gute. Yoontek Rhim vom Thüringer Opernstudio war schon als Romancier Fléville sowie als der Ankläger Fouquier-Tinville besetzt und machte mit seinem kraftvoll tiefen Bariton eine gute Figur. Auch bei der ihm umständehalber zusätzlich zugefallenen Arie des Gérard, die er im Opernstudio wohl eher zufällig einstudiert hatte, überzeugte er mit Festigkeit und Selbstbewusstsein. In den tieferen Frauenstimmen wirkten Anja Daniela Wagner, die als Gräfin de Coigny sowie als alte Madelon besetzt war, mit schön geführtem, klarem Mezzo und Brigitte Roth klangschön als Bersi. Gustavo Zahnstecher gab mit kräftigem Bass den Mathieu, und in der Doppelbesetzung als Abate und Incredibile (Spitzel) sang Martin Kalus mit schönem lyrischem Tenor. Als Kerkermeister Schmidt gefiel Yavor Genchevs (Nordhäuser Opernchor) mächtiger Bass, während Thomas Kohl als Roucher mit nicht genügend grundiertem Bassbariton abfiel.

Dem Publikum, das laut den Autokennzeichen auch aus der weiteren Umgebung aus Niedersachsen angereist war, aber dennoch die Premierenvorstellung nicht ganz füllte, zollte dem wirkungsvollen Opernabend anhaltenden Beifall. Dass die Intendanz wegen der stimmlichen Probleme von Kai Günther allen Gästen einen weiteren, kostenlosen Besuch der Oper anbot, wäre angesichts der Qualität des Gebotenen wohl nicht notwendig gewesen; aber Kai Günther wird damit die Möglichkeit gegeben, auch das Premierenpublikum stimmlich noch einmal überzeugen zu können. Das kann von dem Angebot bei den Folgevorstellungen am 1. und 27.2., 16.3., am 7. und 21.4. Gebrauch machen. Ab 27.4. bis 28.5. geht die Produktion für fünf Aufführungen ins Theater Rudolstadt.

Manfred Langer, 29.01.2013
Fotos: Tilman Graner