Mittags, im Westböhmischen Museum, sehen wir im Kaiser-Franz-Josef die Fresken, die die Landbevölkerung im realistischen Stil der vorletzten Jahrhundertwende zeigen. Abends, im Tyl-Theater, erblicken wir auf dem Theatervorhang einige verwandte Figuren, die sich nach dem Öffnen desselben auf der Bühne zeigen. Das Národni divadlo moravskosleské hat also am zweiten Abend seiner Gastspiel-Trilogie Smetanas Das Geheimnis (Tajemstvi) nach Westböhmen geschickt: eine 1878 uraufgeführte Oper mit Figuren aus einer Kleinstadt bzw. einer Gegend, die der Komponist genau kannte, als er während der Schöpfung seiner vorletzten Oper auf den Schauplatz des zweiten Akts, eine Burgruine bei Jabkenice, schauen konnte.
Die Inszenierung Tomáš Studenýs setzt, zusammen mit den Kostümen Eva Jirikovskas und der Ausstattung David Janošek, durchaus auf das Ländliche, doch hat man keinen Augenblick den Eindruck, dass es hier, ohne dass man der Geschichte eine Meta-Ebene aufsetzt oder die Zustände brutalisiert, ausgesprochen tümlich zugeht. Man hat „nur“ den Kern der Geschichte erfasst, die nach den Titelvorschlägen der Librettistin Eliška Krásnohorská auch „Der Schatz“ oder „Alte Liebe“ hätte heißen können. Wieder treffen, wie im Kuss, zwei älter gewordene Liebende aufeinander. Romeo und Julia treffen sich diesmal glückhaft auf dem böhmischen Dorf: Am Ende kommen Roza und Kalína zusammen, die vor Jahren von ihren Familien getrennt worden sind, weil Kalína damals zu arm war. Die Verbindung der beiden erwachsen gewordenen Leute verhindert der Familienstreit, der seit damals existiert; nun ist der Mann zwar ein freier Witwer, aber die Frau verbittert – sie fühlt sich wie eine „alte Jungfer“ und macht dem Geliebten den Vorwurf, dass er damals nicht beim Mönche Barnabâs um das Geheimnis angefragt hat, wie er zu einem Schatz gelangen könne. Bei einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen den Familien wird nun zufällig ein Zettel gefunden, auf dem die Botschaft des Mönchs verzeichnet ist. Kalína macht sich auf, den geheimnisvollen Schatz in den Gängen der benachbarten Burgruine beim Berg Bösig zu finden. Nach einigen Verwirrungen landet Kalína schließlich am Ende einer Backofentür im Haus seiner geliebten Roza. Der Schatz war nämlich nichts Anderes als – sein Schatz. Die Familien versöhnen sich, und auch die ineinander verliebten Kinder, die zunächst die Schulden der Eltern bezahlen müssen, sich aber weigern, so wie Roza und Kalina zu agieren, werden ins Happy End eingeschlossen.
Das Geheimnis besitzt eine zentrale und hinreißende Szene, die den Realismus der früheren „Volksstücke“ aufbricht. Wenn sich Roza und das junge Liebespaar, Blaženka und Vit, im Mittelakt zur Nachtzeit in den Ruinen zusammentreffen, singen sie nicht nur in zärtlich-bewegtem H-Dur ein kleines Duett, das mit Absicht an das zentrale Duett aus dem Tristan erinnern mag. Ein Geisterballett akzentuiert die echt smetaneske Liebes-Szene, als wär’s ein Stück aus dem Mitsommernachtstraum, bevor sich die Familienmitglieder zusammenfinden und in einem grandiosen kontemplativen Ensemble ihren Gefühlen Ausdruck geben. Smetana hat auch hier gezeigt, über welche Sprachmittel er – nah bei Mozart und doch ganz bei sich selbst – verfügte, ohne seine Persönlichkeit zu verleugnen; das Ensemble gehört zweifellos zum Höhepunkt seines späten Schaffens. Hier also wieder die lyrische Arie, dort die plebejische Figur des Ausgedingers Bonifâc, auch dies eine „Bombenrolle“. Hier der Jahrmarktssänger Skrivânek und seine populären wie tief empfundenen Lieder, dort die Arien der verzweifelten Helden. Hier die komplizierte, auf wenigen prägnanten Motiven beruhende Polyphonie, dort die betonte Einfachheit. Smetana hat seine Hauptmotive (eines für das Geheimnis, das zweite für den Kalína) nicht als Keimzelle für weite musikalische Teile der stark lied-, arien und ensemblehaften Oper, sondern als „Erinnerungsmotive“ benutzt. Weiträumige Chorszenen stehen neben empfindsamen Sologesängen, Traumerscheinungen konterkarieren die kleinstädtischen Interieurs mit ihren allzu menschlichen Streitigkeiten. Ihre Melodik mag, worüber man unendlich wie fruchtlos streiten kann, „nicht mehr die zündende Spontaneität des Kusses“ haben, wie Kurt Honolka schrieb. „Als Ganzes ist die Partitur jedoch ein Meisterwerk, das insgesamt vollkommenste des heiteren Smetanastils.“ Und das Libretto der Krásnohárska ist, so Honolka, das Beste der drei Textbücher, die die Autorin ihrem geliebten Meister schrieb; bezeugt wird’s von einer tschechischen Freundin, die am Abend bezeugte, dass der Text tatsächlich flüssig und stimmig sei.
In Ostrava, nun zum letzten Mal in Pilsen, zeigt das Ensemble des Národni divadlo moravskosleské, wie ein Smetana von heute zu klingen hat: tief lyrisch und emphatisch, hurtig und witzig. Mit dem Kalina des Martin Bárta und der Roza der Anna Nitrová hat man ein vokales und schauspielerisches Traumpaar auf die Bühne gestellt. ER ist gesegnet mit einem deutlichen wie starken, doch niemals überlauten Ton, SIE mit einer Genauigkeit des Ausdrucks, die die Innerlichkeit wie den Zorn nach außen trägt. Gleichermaßen vorzüglich: Sona Godarská als Blaženka, die ihre „Nummern“, auch die Krönung des Septetts mit Chor, auch das Leidenslied in der Stube des dritten Akts glänzend und bewegend singt, bevor der andere Geliebte schließlich durch den Kachelofen in die Stube bricht und sie selbst von ihren Liebesqualen erlöst wird. Richard Samek war 2024 der Lukas im Kuss, nun ist er der Vit, der jugendliche Liebhaber, der zwischen Emphase und nun freilich kurzem Starrsinn hin- und herlaviert; der Applaus gilt am Ende nicht zuletzt ihm, seiner Partnerin und den beiden älteren Liebenden, weil sie, ich hab’s schon anlässlich der gestrigen Brandenburger in Böhmen geschrieben, wissen, wie man den Smetana klar macht. Dies wissen auch die anderen Protagonisten: Martin Gurbaľ als knorziger Malina, Martin Javorský als Superstar von Dorfsänger – ein Dorfsänger von hohen Graden –, Josef Kovačič in der komischen, charakteristisch, aber nicht karikaturistisch ausgefüllten Rolle des Bonifâc, der so gern die Roza geheiratet hätte (als einziger Verlierer schaut er am Ende traurig auf die glücklich Feiernden), Roman Vlkovič als Maurermeister und Petr Urbánek in der kleinen, aber unverzichtbaren Rolle des Geists des Vater Barnabâs, der vor jedem Akt vom Zuschauerraum aus die Bühne betritt, als wolle er uns sagen, dass die Geschichte der verfeindeten Familien, aber auch der finalen Versöhnung immer noch unter uns spielen könne…
Auch diesmal gibt es, wie in den Brandenburgern in Böhmen, ein kleines Tanzensemble, aber diesmal bricht’s nicht den Rahmen, den die Szene ihm bei den Bauern und unter den Geistergestalten des Burgruinen-Akts zuweist. Man tanzt halt rural; das ist schon in der ersten Szene köstlich, wenn der Chor sich rhythmisch bewegt und einige bäuerliche Schlaggeräusche die Eingangsszene rhythmisch akzentuieren. Kinder treten auf, sie werden die arme Blaženka bitten, doch bei allem Herzeleid zu singen, im zweiten Akt feiern junge Frauen einen Gottesdienst an einem Marienbild, ganz im Hintergrund, während vorn die Tragödie abläuft. Wird die Liebe besungen, treten Choristen älteren Alters auf: die Liebe ist zeitlos, die Botschaft ist so einfach wie richtig. Regietheater? Regietheater – aber eines von der zurückhaltend-kommentierenden Sorte. Ist das alles traditionell? Ja, aber es ist nicht antiquiert, sondern springlebendig, farbig, facettenreich, nicht zuletzt in jedem Sinne liebevoll.
Auch das Orchester und der erstklassige Chor des Národni divadlo moravskosleské dürfen unter Jakub Klecker zeigen, wie eine acht Jahre alte Produktion zu klingen hat: schlichtweg frisch. Der Beifall ist denn auch am zweiten Abend der Smetana-Trilogie gewaltig und, ich hab’s nicht gemessen, wohl auch ein wenig länger und noch begeisterter als am ersten Abend. Der Gast aus Deutschland aber denkt sich: Seltsam, da graben die unmusikalischsten Dramaturgen hierzulande die seltensten Opern aus der beliebten Reihe „Opern, die die Welt nicht braucht“ aus, die allermeist sofort wieder und verdientermaßen in der Versenkung verschwinden, weil sie schlicht und einfach zu schwach sind, um im Repertoire zu bestehen. Dabei hat man mit Smetanas 7,5 genialen Opern einen wahren Schatz an musikdramatischen Werken, die, bei guter Besetzung und Regie, auch bei uns die größten Erfolge feiern würden.
So wie Das Geheimnis, das die Librettistin ursprünglich und mit guten Gründen „Der Schatz“ nenne wollte…
PS: Wer sich das mitreißende Ensemble des 2. Akts anhören möchte, sollte ab 1:14:50 hineinhören: https://www.youtube.com/watch?v=le8gMHta9bA
Frank Piontek, 6. Januar 2025
Das Geheimnis
Bedřich Smetana
J.K. Tyl-Theater, Pilsen
Gastspiel des Národni divadlo moravskosleské, Ostrava
Besuchte Vorstellung: 5. Januar 2025
Premiere am 27. April 2017
Inszenierung: Tomáš Studený
Musikalische Leitung: Jakub Klecker
Orchester des Národni divadlo moravskosleské