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Die Reise auf den Mond (Le voyage dans la lune) ist eine vieraktige Opéra Féerie auf ein Libretto von Albert Vanloo, Eugène Leterrier und Arnold Mortier, frei nach den Romanen von Jules Verne: „Von der Erde zum Mond“ und „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“. Da Jules Verne auf Plagiatsvorwürfe verzichtete, konnte das große, an Mitwirkenden und pittoresken Szenen reiche, revuehafte Ausstattungsstück am 26. Oktober 1875 im Théâtre de la Gaîté in Paris uraufgeführt werden. Bei dieser Produktion wurden keine Kosten gescheut. Es gab großartige Bühnenbilder mit zahlreichen Überraschungseffekten für die Zuschauer und mehr als 600 verschiedene Kostüme, eine opulente Raumfahrtrevue in vier Akten und 23 Bildern. Es gab eine Vielzahl von Balletten und Szenen von beträchtlichem Schauwert, u. a. ein Ballett der Schneeflocken oder ein Vulkanausbruch, sogar ein echtes Kamel trat auf.
Die Librettisten und Jacques Offenbach stellten in der Opéra-féerie“ „Le voyage dans la Lune“ zwei unterschiedliche Systeme einander gegenüber: die halbwegs aufgeklärte und an technischem Fortschritt interessierte Welt der Erde und die gefühlskalte überreglementierte Welt des Mondes, die nur zu leicht aus der irdischen hervorgehen kann. Das Stück strotzt vor galliger Gesellschafts-analyse, die mit phantastischer Handlung und unwiderstehlicher Musik Präsentiert wird.
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Offenbach und seine drei Librettisten erzählen vom irdischen König Zack, der sich mit seinem (auf Erden gelangweilten) Sprössling Prinz Caprice (auf der Suche nach neuen Sensationen) und dem Hofgelehrten Mikroskop per Kanone auf den Mond schießen lässt, wo der Prinz neue Abenteuer wittert. Dort treffen die Erdbewohner auf Befremdliches. Im Reich des König Kosmos müssen Frauen an den Herd, werden versteigert, als Objekt männlicher Machtgier benutzt (Me too lässt grüßen), sind nur Dekoration und Statussymbole. Den Nachwuchs bezieht man aus dem Kinderland. Liebe gilt als Krankheit. Zufällig haben die Erdlinge im Proviant Äpfel dabei, die ihre (seit biblischen Zeiten bekannte) magische Wirkung tun: Mondprinzessin Fantasia verliebt sich schon nach dem ersten Biss in das irdische Obst spontan in Caprice – und wird ihn, nach einem Vulkanausbruch und heillosen Verwirrungen auch bekommen. Die Bibel- und Antikenbezüge zum Apfel als Sinnbild der Lust sind unübersehbar. Ende gut, alles gut: Die Erde erhebt sich und erstrahlt im Polarlicht. Die Menschen begrüßen die Erde, deren Licht durch den Weltraum scheint.
Leider sieht man diese faszinierende Opéra féerie nur selten auf den Bühnen. Dazu muss man hierzulande schon in die Oberpfalz nach Regensburg fahren, wo es eine total überdrehte, perfekt getimte Aufführung mit rasanten, humorvollen Dialogen, die schon Mal auf Gegenwart abheben (Stefan Troßbach), furiosen Balletteinlagen, grandiosen, ständig wechselnden Kostümen und ironisch-zauberhaften Bühnenbildern gibt, die von raffinierten Videos begleitet werden.
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Der schweizerische Regisseur und Choreograf Simon Eichenberger enthält sich im zauberhaften Theater in Regensburg jedweder Aktualisierung, die sich ja anböte. Er zeigt quasibarocke schmiedeeiserne Konstruktionen und schont nicht Hubpodien, Kulissen und Prospekte. Sein König Zack ist ein Allongeperücken-Monarch à la Ludwig XIV. und trifft auf dem Mond Wesen zwischen „Raumpatrouille“ und „Star Trek“. Vor dem Betraten des Mondes ertönt denn auch eine entsprechende Film-Fanfare. Das Stück ist so eindeutig zweideutig, dass es keine Adaption ins Hier und Heute benötigt. Was nicht heißt, dass es keine Aktualisierungen gibt. Doch die werden nicht plakativ, sondern diskret eingebaut: die Einkaufstüten der Frauen mit verfremdeten Edel-Marken über den Reiseproviant der Erdlinge (neben Äpfeln auch Weißwürste und Haribo).
Wer in die offenbar aphrodisischen Äpfel hineinbeißt, der entbrennt in Lust und Liebe, nur der Mondkönig bekommt davon nichts als hörbare Blähungen. Die Mondfrauen sind in Regensburg Shoppingqueens mit blonden Hochfrisuren der 50 er Jahre, die verfremdete Luxus-Accessoires konsumieren (in Einkaufstüten von Armani, Hugo Boss, Adidas u.a.) oder werden rüde versteigert in einer Börsenszene, die an Gesellschafskritik nichts zu wünschen übrig läßt und die ganze die Hybris des Kapitalismus karikiert). Herrlich Baron Binschschonda von Carlos Moreno Pelizari, er ist in seiner monetären Großspurigkeit und machohaften Allüre aus dem gleichen Holz geschnitzt wie der Brasilianer aus „Pariser Leben.
Geradezu Atemberaubend schlüpfen das große Solistenensemble, aber auch der Regensburger Opernchor (Choreinstudierung Luzia Birzer) und die furiose Tanzcompany des Theaters Regensburg (Choreografie Dominique Brooks-Daw) in immer neue Rollen. Poetische Tanzszenen, ironisch-freche Revueeffekte und Musicalanleihen in der Bewegungsdramaturgie sorgen für enorme Unterhaltsamkeit. Chapeau!
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Verantwortlich für den unwiderstehlichen Bühnenzauber dieser Produktion ist Sam Madwar (Bühne, Videos). Seine Video- und Ausstattungsphantasien spielen mit Assoziationen der Jules-Verne-Zeit und zeigen augenzwinkernd die Zeiten des gusseisernen Fortschritts. Man wohnt einem romantisch inspirierten Kanonenflug durchs Weltall bei, erlebt einen Schneesturm auf dem Mond und den Ausbruch eines Mond-Vulkans samt Lavafluß und Feuersbrunst.
Simon Eichenberger und Wanja Ostrower hüllen die Bühne ständig in zauberhaftes, ständig sich veränderndes Licht und überziehen die Szene mit Glitzerwundern, Nebelschwaden, leuchtenden Sternchen, Schneeflocken und Feuer.
Susanne Hubrichs Kostümphantasie reicht von höfischer Pariser Mode des 18. Jahrhunderts bis zu science-fiction-haften intergalaktischen Kreationen. Eine theaterkulinarische Sensation. Umwerfend ist das perfekte Timing dieser Produktion. Intelligente Dialoge, mitreißende Musiknummern, witzig-ironische, futuristische wie poetische Ballett-Einlagen greifen fugen- und atemlos ineinander. Dominique Brooks-Daw hat für die Regensburger Tanzcompany Choreografien zwischen Traumvision und Faschingsgarde ersonnen.
Was die Sänger angeht: Patrizia Häusermann glänzt in der Hosenrolle des Prinz Caprice. Sophie Bareis besticht mit ihren Spitzentönen und belcantohafter Koloraturengeläufigkeit als entzückende Mondprinzessin Fantasia. Das Apfelduett der beiden, aber auch die große Koloraturarie der frisch verliebten Fantasia sind famos.
Konstantin Igl als pfiffiger Wissenschaftler und Königsberater Mikroskop und Giulio Alvise Caselli als trottelig-würdevoller König Zack sind in ihren Barock- bzw. Rokoko-Kostümen ein herrlich komisches Duo, wie auch ihre Mondkollegen Jonas Atwood als steifer und knorriger König Kosmos und Marcel Oleniecki als überspannter Kaktus.
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Tom Woods entfacht mit dem hervorragend disponierten Philharmonischen Orchester vom Pult aus ein rasantes, musikalisches Feuerwerk. Sein Dirigat ist ein funkensprühendes Plädoyer für ein großartiges, musikalisch sehr vielseitiges Stück, eines der besten Offenbachs. Woods heizt die Spielfreude der Mitwirkenden und das Vergnügen des Publikums ordentlich an. Das zündende wie sorgsam einstudierte Dirigat hat Esprit, es zeigt Stilbewusstsein und große Sensibilität, ja Affinität für Offenbachs heiter-satirisches Musiktheater (das mit Operette – allen Behauptungen des Programmhefts zum Trotz – nichts zu tun hat). Es fällt schwer, ruhig auf seinen Sitzen zu verharren. Die Aufführung ist grandios, der Applaus des Publikums aus nah und fern nicht enden wollend. Eine Reise nach Regensburg zur „Reise auf den Mond“ lohnt sich, zumal die überwältigende Produktion die derzeit einzige Aufführung des (viel zu selten gespielten) Stücks in Deutschland ist.
Dieter David Scholz, 15. Februar 2025
Die Reise auf den Mond
Jacques Offenbach
Theater Regensburg
Besuchte Vorstellung: 14. Februar 2025
Premiere am 25. Januar 2025
Inszenierung: Simon Eichenberger
Musikalische Leitung: Tom Woods
Opernchor, Tanzcompany Theater Regensburg
Philharmonisches Orchester Regensburg
Nächste Aufführungen: 27. Febr., 29. März, 10. April, 15. April