Solingen: „Pinkelstadt“, Mark Hollmann und Greg Kotis

Neben den immer wieder gespielten Musicals wie West Side Story, My Fair Lady oder Sweeny Todd bietet das Genre unglaublich viele Stücke, die in Deutschland eine Art Schattendasein fristen und die nur sehr selten auf den Bühnen des Landes zu sehen sind. Dazu gehört auch das Musical Pinkelstadt – Ab in die Büsche! das derzeit vom Theater für Niedersachsen aufgeführt wird. Urinetown, so der Originaltitel des Musicals, wurde bereits im April 2001 uraufgeführt und ging wenige Monate später an den New Yorker Broadway, wo es bis Januar 2004 in 965 Vorstellungen zu sehen war. Damit erreichte das mit drei Tony Awards ausgezeichnete Musical die bis dahin längste Laufzeit in der Geschichte des Henry Miller’s Theatre.

© Tim Müller

Doch wie kommt man auf einen solchen Titel? Um diese Frage zu beantworten, genügt ein kurzer Blick auf die Handlung. In einer dystopischen, nicht näher definierten Zukunft herrscht nach einer Dürrekatastrophe absoluter Wassermangel. Private Toiletten sind verboten und die Bevölkerung ist angehalten, nur noch die öffentlichen Bedürfnisanstalten zu benutzen. Diese werden von der GmbHarn & Klo KG betrieben, die damit ein lukratives Geschäftsmodell entwickelt hat. Denn wer sich heimlich hinter die Büsche schleicht und hierbei im totalen Überwachungssystem erwischt wird, wird nach Pinkelstadt verbannt. Ein Ort von wo noch niemand zurückgekehrt ist. Nach einer drastischen Gebührenerhöhung der ohnehin sehr hohen Gebühren, die für viele einfach nicht mehr bezahlbar ist, kommt es zur Revolution. Angeführt wird sie von dem jungen Jonny Stark, dessen Vater vor kurzem nach Pinkelstadt verbannt wurde. Dass sich Jonny ausgerechnet in Freya, die Tochter von Werdmehr von Mehrwerth, dem Inhaber der GmbHarn & Klo KG, verliebt hat, macht die Sache nicht einfacher.

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Obwohl das Stück schon über 20 Jahre alt ist, werden auch heute noch hochaktuelle Themen wie Klimawandel, Korruption oder unsozialer Machtmissbrauch angesprochen. Diese werden jedoch in eine sehr satirische Erzählstruktur verpackt, die stellenweise absolut überspitzt, aber sehr humorvoll daherkommt. Auch das Genre Musical selbst wird in Pinkelstadt aufs Korn genommen, wenn beispielsweise Wachtmeister Kloppstock gleichzeitig als Erzähler fungiert und immer wieder die vierte Wand durchbricht, indem er das Publikum direkt anspricht und erklärt, wie so ein Musical überhaupt aufgebaut ist. Annika Dickel ist hier eine sehr feinsinnige Inszenierung gelungen, die den Balanceakt zwischen ernsteren Tönen und absolutem Klamauk wunderbar meistert. Darüber hinaus beweist sie ein gutes Gespür für das richtige Timing und kann mit einer sehr guten Personenführung punkten. Neben der Regie zeichnet sie auch für die gelungene Choreographie verantwortlich, die von den zehn Darstellern des Abends sehenswert umgesetzt wird. Diese verkörpern die einzelnen Rollen bis in die kleinste Nebenrolle ganz wunderbar. Elisabeth Köstner, Jack Lukas, Samuel Jonathan Bertz, Daniel Wernecke und Silke Dubilier schlüpfen allesamt in mehrere kleinere Rollen. Als Wachtmeister Kloppstock gelingt es Jürgen Brehm wunderbar, den durch und durch korrupten Polizisten dennoch als durchaus sympathischen Erzähler erscheinen zu lassen. Unterstützt wird er dabei von Lucía Bernadas Cavallini, die als Klein-Erna an seiner Seite immer wieder für gelungene Dialoge zwischen den beiden sorgt. Karsten Oliver Wöllm spielt den absolut skrupellosen Geschäftsmann Werdmehr von Mehrwerth so überzeugend, dass man ihn abgrundtief hasst, wenn er das Geschäft über seine Tochter Freya stellt. Besonders in der Nummer „Sei nicht der Hase“ bringt er sarkastisch überspitzt auf den Punkt, dass man als Jäger durchaus bessere Überlebenschancen hat als der Hase. Gesanglich besonders stark sind in der besuchten Vorstellung Katharina Wollmann (als Freya von Mehrwerth) und Louis Dietrich (als Jonny Stark), die das insgesamt hervorragende Ensemble komplettieren. Musikalisch führt Andreas Unsicker die vierköpfige Liveband gekonnt durch den Abend.

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Mark Hollmann (Musik und Gesangstexte) und Greg Kotis (Buch und Gesangstexte) haben mit Pinkelstadt ein kleines Meisterwerk geschaffen, denn die satirisch überspitzte Geschichte hält einige durchaus unerwartete Wendungen bereit. Im Zusammenspiel mit der sehr abwechslungsreichen Musik, die zudem immer wieder Referenzen an andere große Musicalklassiker enthält, entfaltet sich ein ganz eigener Charme, der den positiven Gesamteindruck des Abends abrundet. Aufgeführt wird übrigens die komplett deutsche Fassung, zu der Ruth Deny das deutsche Buch und Wolfgang Adenberg die sehr gelungenen deutschen Liedtexte geschrieben haben. Schade nur, dass vergleichsweise wenige Besucher nach Solingen kamen, um eines der sehr seltenen Gastspiele des TfN in Nordrhein-Westfalen zu sehen. Diese waren zwar durchweg begeistert, aber leider scheint das Publikum derzeit wenig Interesse an guten Stücken abseits der großen Werke zu haben. Ein kleiner trauriger Gedanke nach einem ansonsten wunderbaren Theaterabend.

Markus Lamers, 10. Juni 2024


Pinkelstadt – Ab in die Büsche!
Musical von Mark Hollmann & Greg Kotis

Theater für Niedersachen
Gastspiel im Theater und Konzerthaus Solingen

Besuchte Vorstellung: 8. Juni 2024

Inszenierung: Annika Dickel
Musikalische Leitung: Andreas Unsicker

Trailer

Weitere Aufführungen: 16. Juni (Hildesheim) / 21. Juni (Burgdorf)