Würzburg: „Don Giovanni“

Besuchte Aufführung: 19. 1. 2014 (Premiere: 22. 6. 2013)

Der Freidenker und die katholische Gesellschaft

Sie stellt eine der besten Produktionen im Repertoire des Theaters Würzburg dar: Francois De Carpentries’ Inszenierung von Mozarts „Don Giovanni“, die bereits am 22. 6. 2013 ihre Premiere feierte und auch diese Saison wieder auf dem Spielplan des Mainfrankentheaters steht. Dem Regisseur gelingt es ausgezeichnet, die Entstehungszeit des Werkes mit unserer heutigen Ära zu verbinden und dabei mit vielen neuen Aspekten aufzuwarten. Seine gelungene Regiearbeit ist insgesamt recht moderner Natur, weist aber auch konventionelle Elemente auf. Dass der Nachmittag sehr kurzweilig und spannend geriet, ist neben dem klug durchdachten Konzept auch De Carmentries’ logischer und stringenter Personenregie zu verdanken. Darüber hinaus versteht er sich trefflich auf Tschechow’sche Elemente. Das wird deutlich, wenn er Don Ottavio bei „Dalla sua pace“ von Anna beobachten lässt oder im Finale des ersten Aktes die geisterhaften Masken Elvira, Anna und Ottavio vom Hausherrn schon lange vor seinem eigentlichen Auftritt neugierig beobachten lässt. Ein weiteres Beispiel ist die Anwesenheit Elviras bei der Szene des Commendatore im zweiten Akt, bei der sie von Don Giovanni geküsst wird. Vorher haben dieser und Leporello im Radio Opernmusik angehört.

Es geht De Carpentries nicht um die Aufzeigung der sexuellen Übergriffe eines vergnügungssüchtigen Lebemannes, sondern vielmehr um dessen Opposition gegen gesellschaftliche und kirchliche Moralvorstellungen, die hier eine Einheit bilden. Die Wand des von Karine Van Hercke geschaffenen Einheitsbühnenraums – von ihr stammen auch die gefälligen Kostüme – besteht aus zahlreichen Zeitungsausschnitten, in denen die Werte der Gesellschaft hochgehalten werden. Viele gezeichnete Köpfe zieren den oberen Teil der Wand. Don Giovanni erscheint als ausgemachter Freidenker, der durch sein Handeln die derart visualisierten, stets präsenten moralischen Anschauungen von Staat und Kirche hinterfragt und eine Neudefinition anstrebt. Auf diese Weise schlägt der Regisseur gekonnt eine Brücke zwischen Sexus und Politik und platziert als oberste Instanz die katholische Kirche, deren Entscheidungen sich alle Beteiligten unterzuordnen haben. Konsequenterweise wird das Bühnenbild auf der rechten Seite von einem riesigen Kreuz eingenommen. Viele Handlungsträger sind zudem mit Kruzifixen ausgestattet. Zerlina, die genau wie der in einen eleganten weißen Anzug gekleidete Masetto dem gehobenen Bürgertum entstammt und ein Hochzeitskleid trägt, singt ihr „Batti, batti“ mit in Beetstellung erhobenen Händen. Der Arm des Katholizismus ragt weit, nur den sich den althergebrachten Konventionen verweigernden Titelhelden vermag er nicht zu erreichen.

Diese Form des kirchlich geprägten Staates war typisch für die Mozart-Ära, als deren Angehöriger der konventionell gekleidete Don Giovanni erscheint, während die anderen Personen der Moderne entsprungen sind. Bei den Kostümen werden die Verhältnisse mithin umgekehrt. Insbesondere der junge Brillenträger Leporello, dessen Niederschriften der amourösen Eskapaden seines Herrn zahlreiche an der Rampe aufgehäufte Bücher füllen, hat sich den Vorschriften der Gesellschaft strikt unterworfen. Das wird durch die Zeitungsjacke belegt, die er zusätzlich zu seiner Cordhose trägt. Dass er bei diesen Gegebenheiten mit den Anschauungen seines die gemeinschaftliche Ordnung in Frage stellenden Brötchengebers auf Konfrontationskurs gerät, ist nur zu verständlich. Nachhaltig versucht Don Giovanni die anderen Handlungsträger von seinem Standpunkt zu überzeugen, wobei er in erster Linie bei den Frauen Erfolg hat. Er degradiert sie im Gegensatz zu der katholischen Kirche nicht zur puren Hausfrau und Mutter, sondern zeigt ihnen unter Einsatz seiner erotischen Anziehungskraft die Möglichkeit eines Ausbruchs aus den ihnen von der Gesellschaft auferlegten Fesseln auf. Dass er damit durchaus Erfolg hat, wird bereits während des Vorspiels deutlich, als Donna Anna die Initiative ergreift und ihn zum Sex hinter ein schwarzes Segel lockt, wo es dann auch hoch herzugehen scheint. Dies tat sie im Gegensatz zu letzter Spielzeit indes nicht mehr als Domina in goldener Wäsche und mit Strapsen – so erscheint die Szene auf einem Videoausschnitt auf der Homepage des Würzburger Theaters -, sondern in einem schwarzen, gutbürgerlichen Kleid. Warum dieser Einfall heuer geändert wurde, ist nicht verständlich. Er war im Gesamtgefüge des Konzepts sehr sinnvoll und stimmig. Im folgenden Kampf wird der am Boden liegende Don Giovanni von dem mit einem Säbel zum tödlichen Streich ausholenden Commendatore fast erschlagen. Im letzten Augenblick vermag er seinen Widersacher mit einer aus dem Hemd geholten Pistole zu erschießen – ein klarer Fall von Notwehr. Ein Verbrecher im eigentlichen Sinn ist der Held hier nicht.

Im zweiten Akt laufen die Wände spitz im Hintergrund zusammen und weisen mehr Grünzeug auf als im ersten Akt. Die die alten kirchlichen Werte der Gemeinschaft ausdrückenden Gesichter auf ihnen sind weniger geworden. Don Giovanni ist es offenbar gelungen, sie in seine soziale Revolte einzubinden. Zunehmend verhilft er den Frauen zu mehr Selbstvertrauen und Mut, aus ihrer christlich-religiös geprägten Mentalität auszubrechen. Sein „Fin chan dal vino“ singt er inmitten einer Schar von Bräuten in Hochzeitskleidern – ein solches führt auch die im schwarzen Kleid und roten Strümpfen streng gezeichnete Donna Elvira in ihrem Koffer als Veranschaulichung ihrer Hochzeit mit dem Geliebten mit sich – und im zweiten Akt lockt sein Ständchen eine ganze Schar von Frauen in Nachthemden an. Indem er die Damen dazu animiert, innerhalb der von der katholischen Kirche dominierten, streng hierarchisch gegliederten Gesellschaft, an deren Spitze Gott selber steht, gegen das ihnen oktroyierte Rollenschema Widerstand zu leisten, stellt er die gottgegebene Ordnung, ja Gott selber in Frage. Und das ist für die kirchlich eingestellte Gesellschaft nicht akzeptabel. Sie setzt sich gegen den Aufrührer zur Wehr und tötet ihn. Unter die geisterhafte, vom Commendatore als Wiedergänger angeführte Schar von schwarz gekleideten Todesmasken und weißen Bräuten haben sich auch die übrigen Protagonisten gemischt. Das weibliche Geschlecht hat nun die Seiten gewechselt, bekennt sich wieder zu seiner christlich-religiösen Erziehung und nimmt an der Ermordung des Titelhelden teil. Das Prinzip Don Giovanni lässt sich aber nicht so leicht eliminieren. Kaum ins Jenseits befördert, darf er schon wieder auferstehen. Die Saat des Widerstandes, die Sehnsucht nach Freiheit wird, einmal ausgestreut, immer wieder von neuem aufblühen.

Gespielt wurde die Wiener Fassung von 1788. Diese Entscheidung hatte zur Folge, dass an diesem Nachmittag weder „Il mio tesoro intanto“ noch „Ah pietà, signorie miei“ zu hören waren. An die Stelle von letzterem trat das Duett „Restati qua“, in dessen Verlauf Leporello von Zerlina mit harten Bandagen auf einen Stuhl gefesselt und auf diese Weise „außer Gefecht“ – so die Aufschrift auf einem Schild, das sie ihm um den Hals hängt – gesetzt wird. Gerd Müller-Lorenz und das Philharmonische Orchester Würzburg pflegten einen leichten, unaufgesetzten Mozartklang in flüssigen Tempi, ließen es aber bei den einleitenden d-Moll-Klängen des Commendatore an der nötigen Unheimlichkeit und Wucht fehlen.

Auf hohem Niveau bewegten sich die gesanglichen Leistungen. Es ist immer wieder erstaunlich, über was für ausgezeichnete Sänger gerade die kleinen und mittleren Häuser doch verfügen. Da ist das Theater Würzburg keine Ausnahme. In der Titelrolle brillierte der junge Daniel Fiolka. Schlank, großgewachsen und blendend aussehend war er schon rein äußerlich ein idealer Don Giovanni. Darstellerisch ging er mit prägnantem und abwechslungsreichem Spiel voll in seiner Rolle auf. Auch stimmlich hinterließ er mit seinem vorbildlich italienisch focussierten, frischen und ausdrucksstarken Bariton einen hervorragenden Eindruck. In Nichts nach stand ihm Johan F. Kirsten, der einen schauspielerisch köstlichen Leporello abgab und seiner Rolle mit kräftigem, profundem Bass auch vokal voll entsprach. Prachtvoll schnitt der über einen wunderbaren sonoren Bass bester italienischer Schulung verfügende Ji-Su Park in der Partie des Masetto ab. Anke Endres stattete die Donna Anna mit gut gestütztem, intensiv und farbenreich geführtem Sopran aus. Bemerkenswert ist das „Or sai chi l’ onore“, das sie entgegen der Konvention weniger dramatisch als vielmehr lyrisch-verhalten und mit bedächtigen Pianotönen zum Besten gab. Barbara Schöller bewältigte mit gut sitzendem, imposantem Mezzosopran die hoch liegende Sopran-Tessitura der Donna Elvira vortrefflich und vermochte auch schauspielerisch zu gefallen. Eine ziemlich resolute, mit vollem rundem Sopran singende Zerlina war Anja Gutgesell. Lediglich einen mittelmäßigen Eindruck hinterließ der insbesondere in der Höhe nicht gerade viel vokale Dämonie verströmende Commendatore von Marek M. Gasztecki. Nicht mein Fall war Joshua Whitener, der den Don Ottavio mit nur dünnem, jeglicher soliden stimmlichen Anlehnung entbehrendem Tenor sang. Er sollte sich um eine tiefere Stütze seiner Stimme bemühen. Eine solide Leistung erbrachte der von Michael Clark einstudierte Chor.

Ludwig Steinbach, 22. 1. 2014

Die Bilder stammen von Falk von Traubenberg