Würzburg: „La Bohème“

Premiere: 13.10.2018, besuchte Vorstellung: 21.10.2018

Eine Liebe fürs ganze Leben

Lieber Opernfreund-Freund,

eine Liebe, die einen Winter lange hält, hat Puccinis vierte Oper La Bohéme zum Inhalt. Sie beginnt am Weihnachtsabend in der Mansarde von Rudolfo und endet im Frühjahr darauf mit dem Tod der geliebten Mimi. Gerade deshalb wird sie gerne als eine Art Weihnachtsoper auf Spielpläne gesetzt. Von Weihnachtsstimmung jedoch ist in der ersten Musiktheaterproduktion der laufenden Spielzeit am Mainfrankentheater Würzburg wenig zu spüren, vielmehr begibt sich Regisseurin Martina Veh zusammen mit dem Zuschauer auf eine 50 Jahre dauernde Zeitreise.

In die wilden 68ern verlegt die Regisseurin die Handlung des 1. Aktes, die Künstler-WG wird zur Kommune, die freie Liebe predigt und lebt und ihren eigenen Idealen nachhängt. Dass die sich im Laufe der Jahre relativieren, zeigt sich im dritten Akt, in dem zur Jahrtausendwende Trostlosigkeit und Ernüchterung in das Leben der Protagonisten getreten ist, ehe die Schicksals-WG im Schlussbild im Altenheim im Hier und Jetzt zusammen hockt, Musiker Schaunard nach wie vor Schallplatten poliert und Mimi nach langem Leiden an der Seite von Rudolfo – man mag sich hier eine komplizierte On/Off-Beziehung vorstellen – stirbt. Damit geht ein Riss durch den eingeschworenen Freundeskreis, den Veh zusammen mit Bühnenbildnerin Émilie Delanne recht holzhammerartig visualisiert. Die eindrucksvolle Produktion lebt von durchdachter und so klarer wie spannender Personenführung, lediglich der zweite Akt gerät ein wenig zum Wuselbild, begeistert aber durch die ideen- und variantenreichen Kostüme aus den 1980er Jahren, die die Berlinerin Magali Gerberon entworfen hat. Martina Veh macht aus der Geschichte um Mimi und Rudolfo eine Liebe für ein ganzes Leben, gleichermaßen aber auch eine Parabel über Freundschaft, verschiebt dadurch gekonnt und stimmig den Fokus und präsentiert eine gelungene und unterhaltsame Lesart des Stoffes von Henri Murger.

Der Sopran von Silke Evers verfügt über enorme Ausdruckskraft und warme Farben und überzeugt mich deshalb vor allem in der zweiten Hälfte, als Mimi zwischen Hoffen und Verzweiflung bangt oder ihr Leben aushaucht. Ihr intensives Spiel lässt einen in Akt drei regelrecht frösteln und im Schlussbild zutiefst mitfühlen, wenn eine alte Frau im verklärten Rückblick auf ihr Leben stirbt. Roberto Ortiz zeigt als Rudolfo sichere Höhe und viel Gefühl, da und dort hätte ich mir allerdings ein wenig mehr Kraft gewünscht. Auch der Bariton von Taiyu Uchiyama, der Schaunard als Alt-68er mimen darf, geht in den Ensembels gerne einmal unter. Dieses Problem hat Daniel Fiolka nicht, der ein stimmgewaltiger Marcello ist, der aber in den leisen Momenten auch mitfühlende und zarte Töne anschlägt. Igor Tsarkov ist ein wunderbar präsenter Colline, dem nicht nur die szenenapplauswürdige Mantelarie bravourös gelingt. Eine wahre Erscheinung schließlich ist die Musetta von Akiho Tsujii, die nicht nur mit strahlender Höhe und hinreißender stimmlicher Beweglichkeit glänzt. Auch sonst ist die junge Japanerin ein regelrechter Wirbelwind von fesselnder Bühnenpräsenz, die überdies durch gekonnt einfühlsame Darstellung ihrer Figur überzeugt.

Aus dem Graben strömt purer Puccini. GMD Enrico Calesso lässt die Partitur des Lucchesers in allen Farben glühen, wählt da und dort interessante Tempi – Musettas Lied im zweiten Akt habe ich nie intensiver musiziert gehört – und spornt die Musikerinnen und Musiker des Philharmonischen Orchesters Würzburg zu Höchstleistungen an. Und auch die Damen und Herren des Chores glänzen im zweiten und dritten Akt, so dass der Nachmittag auch musikalisch ein Hochgenuss wird.

Das voll besetzte Theater ist begeistert, bewegt vom intensiven Spiel der exzellenten Sängerdarsteller und überzeugt von der originellen Lesart. Und auch ich kann Ihnen diese Bohéme sehr ans Herz legen – da lohnt sogar für ein Stück aus dem Standardrepertoire der Weg nach Würzburg.

Ihr Jochen Rüth / 24.10.2018

Die Fotos stammen von Nik Schölzel.