Würzburg: „Madama Butterfly“

Premiere: 28. 9. 2014

Eindringliche Sozialstudie

Dreiunddreißig Jahre war sie am Mainfrankentheater nicht mehr zu erleben: Puccinis „Madama Butterfly“. Um so mehr ist es zu begrüßen, dass sich die Theaterleitung jetzt wieder auf dieses Werk besonnen und als Eröffnungspremiere der aktuellen Spielzeit in einer gelungenen Neuinszenierung herausgebracht hat. Um es vorwegzunehmen: Es war in jeder Beziehung eine vollauf gelungene Premiere, die wieder einmal beredtes Zeugnis von dem hohem Niveau des Theaters Würzburg ablegte.

Karen Leiber (Butterfly), Damenchor

Die Rezeptionsgeschichte der Oper ist verwickelt. Dass von ihr mehrere Fassungen existieren, resultiert daraus, dass das Werk bei seiner Mailänder Uraufführung am 17. 2. 1904 aus bis heute nicht geklärten Gründen beim Publikum durchfiel und Puccini bei nachfolgenden Aufführungen einige Striche und Änderungen an der Partitur vornahm. Bereits am 28. 5. 1904 wurde sie in Brescia in einer überarbeiteten Form erneut herausgebracht und konnte nun einen vollen Erfolg für sich verbuchen. Den überlangen zweiten Aufzug hatte der Komponist nun in zwei Teile aufgespalten und Pinkerton im dritten Akt eine zusätzliche Arie „Addio fiorito asil“ geschrieben. Dabei blieb es aber nicht. Für die Londoner Produktion, die am 10. 7. 1905 zum ersten Mal über die Bühne ging, und die am 28. 12. 1906 erfolgte Pariser Erstaufführung an der dortigen Opéra comique nahm Puccini weitere Korrekturen vor. Die Pariser Fassung stieß auf die Zustimmung des Verlegers Ricordi, der sie dann auch als Vorlage für den Druck der Partitur verwendete. In dieser Form hat sie ihren Siegeszug um die Welt angetreten. Ihr Schöpfer hatte indes große Zweifel daran, ob die für Paris vorgenommenen Kürzungen gelungen waren, und machte bei folgenden Inszenierungen des Werkes einige Striche wieder rückhängig. Heutige Theater greifen häufig auf ältere Varianten von Puccinis Oper zurück, die inzwischen alle gedruckt sind. Die Situation ist derjenigen von Wagners „Tannhäuser“ vergleichbar, den der Bayreuther Meister ja ebenfalls immer wieder überarbeitete, um am Ende seines Lebens schließlich zu dem Fazit zu gelangen, dass er der Welt noch den Tannhäuser schuldig sei.

Karen Leiber (Butterfly), Chor

Die Urfassung ist hinsichtlich der Charakterisierung der Handlungsträger erheblich ergiebiger als die späteren Bearbeitungen. Dies hat Arila Siegert dazu veranlasst, diese als Grundlage für ihre Würzburger Inszenierung zu wählen. Ihre diesbezügliche Entscheidung ist sehr zu begrüßen. Hatte man bei Produktionen anderer Opernhäuser durchaus schon einige Ausschnitte aus der ursprünglichen Form des Stückes gehört, war man an diesem Abend doch sehr überrascht, wie anders doch insbesondere der erste Akt in der in Würzburg gespielten Fassung von 1904 – seine Arie im dritten Akt hat die Regisseurin Pinkerton indes gelassen – anmutete. Staunen konnte man in erster Linie über die ungeheure Aufwertung, die die Figur des Onkels Yakusidè, sonst eine absolute und oft sogar ganz gestrichene Wurzenrolle, erfuhr. Und auch die Äußerung Butterflys, dass sie sich durchaus nicht sofort mit der ihr von Goro angetragenen Heirat mit Pinkerton einverstanden erklärt, sondern sich erst bei der ersten Begegnung mit dem von ihr sofort geliebten Marine-Leutnant dazu bereit gefunden habe, überrascht. Die Titelfigur erscheint sehr viel differenzierter, als es sonst der Fall ist. Das gilt auch für die Figur der Kate, die in dieser Version erheblich mehr zu singen hat. Es sind schon einige Aspekte, die in einem ganz anderen Licht als gewöhnlich erschienen, was die Sache dann auch ungemein interessant machte.

Karen Leiber (Butterfly), Bruno Ribeiro (Pinkerton)

Diese neuen Elemente werden von Frau Siegert gekonnt herausgearbeitet. Eine eindringliche Beleuchtung erfährt bei ihr an erster Stelle die Familie Cio-Cio-Sans, die unter den geänderten Voraussetzungen eine völlig neue Funktion erhält. Während andere Regieteams die Verwandten-Szene im ersten Akt oftmals dazu nutzen, allerlei überflüssige exotische Zutaten ins Spiel zu bringen, und dabei manchmal ins Kitschige abgleiten, bekommt dieses Bild in der Würzburger Produktion die Funktion, das soziale Umfeld zu beleuchten, in dem sich die Protagonistin bewegt. In ihrem von Götz Lanzelot Fischer entworfenen langen weißen Kleid hebt sie sich deutlich von ihren bewusst dunkler, streng und etwas skurril gekleideten Verwandten ab. Sie ist bereits jetzt eine Außenseiterin, die durch ihr Bekenntnis zum Christentum nicht mehr in der Tradition ihrer Heimat steht. Anpassung spielt noch in einer weiteren universellen Hinsicht eine Rolle. Von der politischen Warte aus präsentiert die Regisseurin verschiedene Möglichkeiten der Japaner, mit der Öffnung ihres Landes nach Westen umzugehen. Dieses Thema handelt sie gekonnt an den beiden Onkels Cio-Cio-Sans ab. Yakusidé hat sich unter dem Einfluss des von ihm nicht tolerierten amerikanischen Wertesystems in den Alkohol geflüchtet und darob die Züge einer regelrechten Witzfigur angenommen. Bonze dagegen ist zu einem ausgemachten Fanatiker geworden, der keine andere Ansicht als die seine zulässt und während des ganzen Stücks immer wieder als Vorbote des Todes seiner ausgestoßenen Nichte durch das Geschehen geistert.

Karen Leiber (Butterfly), Sonja Koppelhuber (Suzuki)

In dem Maße, wie die Figur des Priesters ins Surreale abgleitet, wandelt sich auch der von Hans Dieter Schaal kreierte Bühnenraum, der im ersten Akt trotz einer gewissen Nüchternheit noch relativ traditionell erscheint. Ab dem zweiten Akt verliert er zunehmend seine Konturen und erfährt eine Stilisierung. Realismus weicht Abstraktheit. Das entspricht ganz Butterflys Seelenleben, die sich schließlich resigniert eingestehen muss, dass die ganze Episode mit dem amerikanischen Geliebten nichts weiter als ein schöner Traum war. Pinkerton erfährt insgesamt nicht gerade eine positive Zeichnung, obwohl Frau Siegert ihm auch einige positive Seiten zubilligt. Er zeigt sich zu Beginn als großer Zyniker, der seine eigene Mentalität und die seiner amerikanischen Heimat über alles stellt und nicht bereit ist, andere Kulturen zu akzeptieren. Sein gefahrvolles Leben auf einem Kriegesschiff versucht er bei Landgängen durch immer neue sexuelle Abenteuer zu kompensieren. Mit welcher Frau er dies tut, ist ihm letztlich gleichgültig. Die Protagonistin ist zuerst nur eine unter vielen. Zudem frönt er voll und ganz dem schnöden Mammon und denkt, mit Geld lasse sich alles regeln. Das wird insbesondere im dritten Akt deutlich, wenn er Sharpless einige Geldscheine für Butterfly in die Hand drückt, die Begegnung mit ihr aber meidet. Indes kann er auch zärtlich und sensibel sein und seiner Geisha-Frau Aufmerksamkeit schenken. Es sind schon sehr deutliche gesellschafskritische Elemente, die die Regisseurin in der Person des ausgemachten Herrenmenschen Pinkerton ins Feld führt. Bei ihr verkommt Puccinis Oper nicht zum sentimentalen Rührstück, sondern zu einem Plädoyer für Toleranz zwischen allen Kulturen. Nicht den anderen lediglich benutzen und anschließend wegwerfen, lautet ihre Devise, sondern ihn und seine Gefühle zu achten. In dieser Beziehung kommt Frau Siegerts Regiearbeit zeitlose Gültigkeit zu. Hier haben wir es demgemäß mit einer handwerklich trefflich umgesetzten Sozialstudie zu tun, die eine logische, flüssige Personenführung aufwies und die ihre Wirkung nicht verfehlte.

Heyong-Joon Ha (Onkel Bonze), Karen Leiber (Butterfly), Sonja Koppelhuber (Suzuki)

Ein Ereignis war wieder einmal GMD Enrico Calesso am Pult, der sich längst für die größten Häuser qualifiziert hat. Er und das brillant aufspielende Philharmonische Orchester Würzburg hatten Puccinis herrliche Musik total verinnerlicht und mit prachtvoller Italianita sowie hoher Emotionalität umgesetzt, ohne dabei jemals ins Kitschige abzugleiten. Diesem von Dirigent und Musikern erzeugten differenzierten, farben- und nuancenreichen Klangzauber, der sich zudem durch große Spannung und weit gesponnene Bögen auszeichnete, konnte man sich wahrlich nicht entziehen. Wie gebannt lauschte man auf das, was da so phänomenal aus dem Graben erklang.

Durchweg phantastisch waren auch die Sänger. Einmal mehr war zu konstatieren, über was für ein hervorragendes Ensemble das Mainfrankentheater doch verfügt, das sich hinter dem größerer Häuser in keinster Weise verstecken muss. Zuvorderst vermochte Karen Leiber in der Titelpartie nachhaltig für sich einzunehmen. Ihre Butterfly zeichnete sich durch enorme darstellerische Kraft, zahlreiche gestalterische Nuancen und einen in allen Lagen bestens fokussierten, intensiven und zur Höhe hin expansionsfähigen jugendlich-dramatischen Sopran aus. Das „Un bel di“ war der Höhepunkt des Abends! Neben ihr überzeugte Bruno Ribeiro schauspielerisch sowohl in den unsympathischen als auch in den liebevollen Momenten des Pinkerton, dem er mit seinem bis zu den fulminanten Höhen sicher und markant geführten Tenor auch vokal bestens entsprach. Einen schön timbrierten, weichen und eine hervorragende italienische Schulung aufweisenden lyrischen Bariton brachte Daniel Fiolka für den Sharpless mit. Eine rührend um ihre Herrin besorgte Suzuki war die mit vollem, rundem Mezzosopran singende Sonja Koppelhuber. Und dass ein Tenor den hier als Karikatur vorgeführten Goro so gut im Körper singt wie Joshua Whitener hat man sonst nur im nahen Coburg erlebt. Sogar an großen Häusern hört man in dieser Charakterpartie fast durchweg nur dünne, flache Stimmen. Ein solide Kate Pinkerton war Barbara Schöller. Mit mächtig sonorem Bassmaterial trumpfte der Onkel Bonze von Heyong-Joon Ha auf. Von Spiel her ziemlich aufgedreht und sehr clownesk und gesanglich ordentlich gab Taiyu Uchiyama den noch recht jugendlich wirkenden Onkel Yakusidé. Deuk-Young Lees Fürst Yamadori wies ordentliches Tenormaterial auf, war aber leider nicht gut zu hören. Diese Rolle ist von ihrer tiefen Tessitura her bei einem Bariton besser aufgehoben. Als Standesbeamte bewährte sich Ivan Dantschev. Den kaiserlichen Kommissär gab Chul Hawn Yun. Als nachvollziehbar von Frau Siegert Dolore – das bedeutet Schmerz – genannter Sohn Cio-Cio-Sans und Pinkertons gefiel Mila Michel. Gundula-Horn-Bayn (Mutter), Hiroe Ito (Tante), Ikuko Miyamoto (Cousine) und Bastian Bank (Neffe) rundeten das hochkarätige Ensemble ab. Ebenfalls ansprechend war der von Michael Clark einstudierte Chor.

Fazit: Eine in jeder Hinsicht gelungene Aufführung, deren Besuch dringend empfohlen wird!

Ludwig Steinbach, 29. 9. 2014

Die Bilder stammen von Falk von Traubenberg