Wien: „Carmen“

So bringt man Leute in die Oper

Eigentlich ist das Rezept ganz einfach, wie man das Genre Oper am Leben erhalten und für neue Publikumskreise attraktiv machen kann: Ein bekanntes Sujet, eine noch immer nicht totgespielte Musik, eine (halbwegs) glaubwürdige Inszenierung und dazu Sänger, die mit jeder Faser ihres Körpers ihre Rollen ausfüllen und über herrliche Stimmen verfügen. Dazu sind gar keine großen Namen nötig, keine Eventkultur, keine Seitenblicke-Reporter. Den Beweis erbrachte einmal mehr die Wiener Volksoper mit ihrer jüngsten Carmen-Serie, deren dritte Aufführung am Programm stand.

Natürlich ist das Meisterwerk von Georges Bizet fast ein Selbstläufer, aber wenn einen das Gesehene und Gehörte auch nach der zigsten Aufführung so in den Bann ziehen kann, wie am "kleinen" Wiener Haus, dann muss das schon einmal ein Lobeswort wert sein. Nämlich an das gesamte Personal und an ihren Chef, dessen Vertragsverlängerung nunmehr im Raum steht. Und dass Robert Meyer an der deutschen Sprache im Opernfach festhält, wurde schon oft genug kritisiert und bemängelt. Wenn aber solche Protagonisten am Werk sind, wie bei dieser Carmen, bei denen man jedes (!) Wort – egal ob gesprochen oder gesungen – versteht, dann macht diese Aufführungspraxis auch wirklich Sinn. Das Publikum, dessen Durchschnittsalter erstaunlich niedrig war und das an einem kalten Februarabend erfreulicherweise ohne geräuschvolle Hustenanfälle konzentriert lauschte, dankte es am Ende mit Begeisterung.

Die Inszenierung – im "Originalnostalgieprogramm" fand man den Hinweis, dass die Premiere vor 20 (!) Jahren stattfand – wird nur mehr "nach Guy Joosten" bezeichnet. Eine Auffrischung täte hier sicherlich gut, aber insgesamt konnten alle Ensemblemitglieder durch individuelle Rollengestaltungen überzeugen und so das Eifersuchtsdrama glaubwürdig rüber bringen. Im Graben sorgte der umtriebige Gerrit Prießnitz für genügend Schwung und verzichtete auf allzu plakative Effekte. Der besonderen Akustik des Hauses war es offensichtlich zu verdanken, dass in der 10. Reihe Parkett die Vokalisten glasklar zu hören waren und das Volksopernorchester manchmal nur kammermusikalische Dimensionen zu besitzen schien.

In der Titelrolle feierte Martina Mikelić ein gelungenes Carmen-Debüt. Was für eine Frau, was für eine Stimme! Mit ihrem tiefen Mezzo konnte sie an ihrem Haus schon in kleineren Rollen immer wieder auf sich aufmerksam machen, die erste große Chance nutzte sie perfekt. Natürlich muss eine Carmen verführerisch sein (und das ist Mikelić in allen vier wunderbaren Kostümen) und über Temperament verfügen (woran es der gebürtigen Kroatin auch nicht mangelt), aber wenn dazu diese warm timbrierte Stimme ertönt, dann spielen nicht nur bei Don José die Hormone verrückt. Mit ihren tiefen Tönen punktet sie nach Belieben und erzeugt Gänsehaut, aber auch in der Höhe überzeugt ihre elegante Gesangkultur. Extraklasse das Schlussbild, bei dem sie trotz ihrer Jugend eine irre Bühnenpräsenz an den Tag legt – stolz und frei geht sie in den Tod.

Mirko Roschkowski bleibt in manchen Szenen vielleicht zu brav im Hintergrund und erduldet passiv seine Liebe zur "Zigeunerin", schauspielerische Leidenschaft sieht man bei ihm nur selten. Seine Tenorstimme blüht aber richtig auf, wenn es hoch und höher wird. Dann kommt auch richtig Schmelz dazu, der in seinem Fach leider immer seltener wird. Und endlich sieht und vor allem hört man wieder einmal einen Escamillo, wie er im Buche steht: Sebastian Holecek, der auch an den ganz großen Häusern Europas immer gefragter wird, lässt hier seine Röhre richtig raus. Diese so schwierige Partie scheint bei ihm die einfachste der Welt. Auch wenn er in der Tiefe des Bühnenraumes steht, hindert dies ihn nicht – so soll der Toreador klingen, so und nicht anders.

Bei diesen drei Hauptdarstellern haben es die übrigen Solisten nicht einfach. Am besten gelingt dies noch Kristiane Kaiser, die eine hausbackene Micaëla glaubwürdig darstellt und im dritten Akt auch ihre Arie gut meistert. Sera Gösch (Frasquita) und Christiane Marie Riedl (Mercedes) stellen ihre beiden Schmuggler-Kollegen Josef Luftensteiner (Dancaïro) und Karl-Michael Ebner (Remendado) in sängerischer Hinsicht ein wenig in den Schatten, aber alle vier gefallen durch ausdrucksstarkes Spiel. Ein wenig klischeehaft verblassen da Petar Naydenov (Zuniga) und Thomas Zisterer (Morales) in ihren Uniformen, kabarettistische Züge bringt Georg Wacks als Lillas Pastia ein. Der Kinderchor der Volksoper brilliert einmal mehr nicht nur in sängerischer, sondern auch in darstellerischer Hinsicht und die Kollegen des Damen und Herrenchores könnten sich da vielleicht einmal etwas abschauen. Für Volksopernverhältnisse langer Applaus für das gesamte Team!

Ernst Kopica 5.2.15

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