Wien: „Parsifal“ (Stream)

Livestream der Premiere vom 11.4.2021

Erinnerungen eines Ex-Häftlings

Zu einem grandiosen Opernerlebnis geriet die Neuproduktion von Wagners Parsifal an der Wiener Staatsoper. Die Corona-Krise brachte es mit sich, dass eine reale Aufführung mit Publikum nicht stattfinden konnte. Stattdessen wurde die Premiere vom 11.4.2021 per Livestream übertragen. Mithin war sie jedem zugänglich, der über Internet verfügt. Auf der Homepage der Wiener Staatsoper ist die Produktion noch bis Juli zu sehen.

In Personalunion für Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme verantwortlich war Kirill Serebrennikov. Der gegen ihn erhobene, wohl ungerechtfertigte Vorwurf der Veruntreuung von Fördergeldern und der Schauprozess, der gegen ihn in Russland geführt wurde, dürften noch in lebendiger Erinnerung sein. Das war schon eine sehr fragwürdige Angelegenheit. Zu guter Letzt wurde Serebrennikov zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Russland darf er aber weiterhin nicht verlassen. Aus diesem Grunde hat er seinen Wiener Parsifal via zoom und mit Hilfe eines Regieassistenten auf die Beine gestellt. Und das in ganz hervorragender Art und Weise. Wieder einmal hat sich Serebrennikov als einer der ganz Großen des Regiefachs erwiesen. Er ist schon ein Theatermann allerersten Ranges. Was er hier auf die Bühne gebracht hat, ist packendes, spannendes und von einer intensiven Personenregie geprägtes Musiktheater, in dem das Medium Film eine große Rolle spielt. Zudem versteht er sich trefflich auf Tschechow`sche Elemente, was die Spannung noch erhöht. So beispielsweise bei der Kussszene des zweiten Aufzuges, wenn Parsifal innerlich die Erscheinung des Amfortas heraufbeschwört. Erwartungsgemäß erteilt der Regisseur jeglicher konventionellen Sichtweise von Wagners Bühnenweihfestspiel eine radikale Absage und verortet die Handlung in einem gänzlich modernen Ambiente. Seine Konzeption ist, um es einmal mit Goethes Theaterdirektor zu sagen, frisch und neu und durchaus auch gefällig. Technisch ist ihm ebenfalls nicht das Geringste anzulasten. Wer zeitgenössische Produktionen liebt, dem wird diese Deutung Serebrennikovs zweifelsfrei gut gefallen.

Serebrennikov siedelt das Geschehen um den reinen Toren in einem Gefängnis an. Mit Blick darauf, dass die Mitglieder der Gralsgemeinschaft Gefangene ihrer eigenen Rituale sind, ist dieser Regieeinfall durchaus nachvollziehbar. Hier sind Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten versammelt, die in der Welt draußen keine Chance mehr haben, ihren vielfältigen Überzeugungen nachzugehen. Es herrschen raue Sitten. Neben Seilspringen und Fitnessübungen sind auch Schlägereien an der Tagesordnung. Die Gewalt nimmt oft Überhand. Die korrupten, mit Rauschgift handelnden Wärter – ursprünglich die Solo-Gralsritter und Knappen – sind dagegen machtlos. Überraschenderweise gibt es in dem Gefängnis noch einen konventionellen Gral. Er wird einem der Aufseher per Paketpost zugestellt. In dieses Ambiente bricht der jugendliche Straftäter Parsifal ein. Serebrennikov spaltet die Titelfigur in zwei Personen auf: Einen ältlichen und einen jungen, von einem Schauspieler dargestellten, Parsifal. Zu Beginn wird das Gesicht des alten Parsifal auf eine riesige Leinwand projiziert. Dann erscheint dieser in Person und lässt sich vor dem Gefängnis auf einer Bank nieder. Im Folgenden hält er eine Rückschau. Seine Erinnerungen bilden die eigentliche Handlung, in deren Zentrum der junge Parsifal steht. Der alte Parsifal setzt sich zunehmend kritisch mit seinem damaligen Handeln auseinander und versucht immer wieder in das Geschehen einzugreifen – ein Unterfangen, das nicht immer von Erfolg gekrönt ist. Einen Schwan gibt es bei Serebrennikov nicht. Ein Mord findet aber dennoch statt. Der junge Parsifal schneidet einem homosexuellen Mitgefangenen, der sich ihm in der Gemeinschaftsdusche mit eindeutigen Absichten nähert, mit einer Rasierklinge kurzerhand die Kehle durch. Im Folgenden wird er auf Geheiß des Obergefangenen Gurnemanz einem Initiationsritual unterzogen, in dem Gewalt und Ekstase nahe beieinanderliegen. Immer wieder werden auf drei riesige Leinwände Gesichter von Gefangenen projiziert, die zuvor von Gurnemanz tätowiert worden sind. Als Tätowierungen sieht man u. a. Kreuz, Kelch und Speer. Der Anführer der Gefangenen, Amfortas, erweist sich als ausgesprochen schizophren und autoaggressiv. Er fügt sich selbst Wunden bei. Die Stimme des unsichtbaren Titurel erscheint ihm als Halluzination. Im Schlussbild des dritten Aufzuges trägt Amfortas die Asche seines Vaters in einer Urne bei sich. Später beschmiert er sich mit der Asche das Gesicht.

Eine besondere Rolle nimmt in diesem Gefängnis die in einem beigen Trenchcoat auftretende Kundry ein. Sie ist in dieser Inszenierung eine ehrgeizige Journalistin, die sich für die gewalttätigen Strukturen des Gefängnisalltags interessiert und darüber eine Reportage schreiben will. Dem jungen Parsifal gilt dabei ihr vorrangiges Interesse. Sie mag ihn. Zufrieden beobachtet sie am Ende des ersten Aufzuges, wie er nach einem Hofgang entlassen wird. Bei Serebrennikov ist sie es, die die kurze Passage der Stimme aus der Höhe singt. Zu ihrem Chef Klingsor, der im zweiten Aufzug als Chefredakteur der Zeitschrift Schloss erscheint, hat sie nicht gerade das beste Verhältnis. Dennoch hat er sie in das Leitungsteam seines Magazins berufen, weil sie phantastische Arbeit leistet. Die Blumenmädchenszene stellt der Regisseur als Redaktionskonferenz dar, in der die als Redakteurinnen gedeuteten Mädchen über das Fotoshooting beraten, das Kundry dem jungen Parsifal vermittelt hat. Prompt wird ihm ein neues Outfit verpasst. Dabei darf er sich den Damen auch mal nackt zeigen. Zunehmend wird Kundry aber bewusst, was Klingsor schon lange weiß , nämlich dass der junge Parsifal eine Gefahr für die Zeitschrift ist. Mit einer Pistole versucht sie, den jungen Parsifal zu erschießen, sieht sich aber letzten Endes dazu außerstande. Stattdessen erschießt sie ihren verhassten Chef Klingsor – eine Tat, für die sie im dritten Aufzug nun ebenfalls im Gefängnis landet. Jetzt sind in dem ursprünglich nur für Männer bestimmten Knast auch lumpig gekleidete Frauen inhaftiert. In einem Arbeitsraum sitzen sie an der Nähmaschine. Als Besucher kommt nun der alte Parsifal zurück. Der junge Parsifal spielt in diesem Aufzug keine große Rolle mehr. Da Parsifal über die Jahre seiner Wanderschaft, einer regelrechten Winterreise, gealtert ist, erscheint es glaubhaft, dass Serebrennikov im dritten Aufzug in erster Linie den alten Parsifal einsetzt. Der Karfreitagszauber wird von den Häftlingsfrauen mit Hilfe von Kerzen, Kreuzen und einem Kranz erzeugt. Der junge Parsifal erscheint und gibt der geläuterten Kundry einen Kuss. Jetzt ist alle Sünde aus dieser Liebesbezeugung verschwunden. Am Ende steht die von Parsifal gebrachte Erlösung als Freiheit für alle. Amfortas wird nicht durch den – hier nicht vorhandenen – Speer, sondern durch eine Berührung Kundrys geheilt. Arm in Arm, wie ein Liebespaar, verlassen Amfortas und Kundry zusammen mit den Häftlingen die Bühne, während der alte Parsifal sinnierend zurückbleibt. Das war alles sehr überzeugend und ausgesprochen kurzweilig in Szene gesetzt.

Auch mit den Sängern konnte man insgesamt voll zufrieden sein. Jonas Kaufmann gab mit imposantem, baritonal timbriertem Tenor und hohem vokalem Ausdrucksgehalt eine überzeugende Studie des alten Parsifal. Seine Höhenpiani hätten allerdings etwas fundierter klingen können. Seit seinem Münchner Parsifal vor einigen Jahren ist seine Stimme deutlich reifer geworden und entspricht dem reinen Toren nun voll und ganz. Der junge Parsifal war bei dem intensiv spielenden Schauspieler Nikolay Sidorenko in bewährten Händen. In der Partie der Kundry debütierte Elina Garanca. Mit der Gralsbotin hat die über bestens fokussiertes, warmes und emotionales Stimmmaterial verfügende Mezzosopranistin eine ausgezeichnete neue Rolle für sich gefunden, in der sie in jeder Beziehung gänzlich aufging. Äußerlich war sie ein Bild von einer Frau, hübsch und sehr ansehlich, der man die Verführerin voll abnahm. Ihr ausgeprägtes Spiel war sehr ansprechend. Und auch in gesanglicher Hinsicht vermochte sie zu begeistern. Seit ich sie das letzte Mal gehört habe, sind ihre Mittellage und die Tiefe noch fülliger und profunder geworden, was der Kundry sehr entgegenkommt. Daneben verfügt sie auch über ausgezeichnete hohe h`s. Insgesamt sang sie recht differenziert. Ohne Zweifel ist sie eine der besten Vertreterinnen dieser anspruchsvollen Partie. Auch das Altsolo war ihr, wie oben schon gesagt, in dieser Produktion anvertraut. Ausgezeichnet gefiel Georg Zeppenfeld, der den Gurnemanz mit herrlicher italienischer Technik, bester Linienführung und sehr sonorem Bassklang ausgezeichnet sang. Markant und ausdrucksstark sowie ebenfalls stimmlich vorbildlich italienisch geschult präsentierte sich der Bariton von Ludovic Tezier als Amfortas, den er auch trefflich darstellte. Ein imposanter, vokal mit seinem bestens gestützten und sehr kraftvollen Heldenbariton mächtig auftrumpfender Klingsor war Wolfgang Koch. Lust auf mehr machte Stefan Cerny s Titurel. Ordentliche Leistungen erbrachten Carlos Osuna und Erik van Heymingen in den kleinen Rollen der beiden Gralsritter. Die ersten drei Knappen waren mit Patricia Nolz, Stephanie Maitland und Daniel Jenz solide besetzt. Demgegenüber fiel Angelo Pollak als vierter Knappe mit überhaupt nicht im Körper sitzendem, ziemlich dünnem Tenor ab. Ordentlich klangen die Blumenmädchen von Ileana Tonca, Anna Nekhames, Aurora Marthens, Slavka Zamecnikova, Joanna Kedzior und Isabel Signoret. Auf hohem Niveau präsentierten sich Chor und Extrachor der Wiener Staatsoper.

GMD Philipp Jordan führte das hervorragend disponierte Orchester der Wiener Staatsoper in gemäßigten Tempi, mit großer Verve und vielfältigen Differenzierungen sowie beeindruckenden Akzenten durch Wagners reichhaltige Partitur. Die musikalischen Strukturen wurden vom Dirigenten fein herausgearbeitet und gekonnt in den großen Zusammenhang gestellt. Die Transparenz des Klangbildes war vorbildlich. Man hörte viele Einzelheiten und Details.

Ludwig Steinbach, 27.04.2021