Vorstellung am 06.05.2018
Es erfordert gewaltigen Mut und zündende Ideen, Goethes FAUST – diesen Koloss der deutschen Literatur – als Ballett auf die Bühne zu hieven. Der Choreograf Edward Clug, dessen FAUST-Ballett vor einer Woche am Opernhaus Zürich seine Uraufführung erlebte, ist nicht der erste Tanzschöpfer, der sich diesem Wagnis stellt – und er wird hoffentlich nicht der letzte sein. Denn die wohl bekannteste, meistdiskutierte und interpretierte Tragödie der abendländischen Kultur birgt unzählige Herangehensweisen. Und stets schwingt bei Adaptionen des Stoffs für Film, Oper und Ballett die Frage mit, welche Goethe in weisen Versen in seinem Vorspiel auf dem Theater behandelt hatte: Kunst oder Kommerz? Denn der Theaterdirektor dieses Vorspiels will buntes, sinnliches Treiben, „…so dass die Menge staunend gaffen kann“ und damit die Kasse zum Stimmen bringt. Der Dichter hingegen strebt nach höheren Weihen, nach dem Echten, das der Nachwelt unverloren bleibt.
Nun, zu sehen und zu staunen gibt es viel an diesem Ballettabend. Da ist erst mal die überzeugende Bühne von Marko Japelj mit ihrer fahrbaren Rückwand und dem grossen, verschliessbaren Fenster, welches Ein- und Ausblicke eröffnet, und gar als Cinemascope Kinoleinwand dient für Valentins Schwertkämpfe und das Duell mit Faust. An Ausstattung braucht es wenig: ein Kinderwagen, eine schlichte Holzbank, die auch als Bett dient, ein wandlungsfähiger Rollstuhl, die Popcorn-Maschine, der schwarze Ballon, mit welchem Mephisto in Strassenkünstlermanier den berühmten Pudel formt und ein riesiger, gläserner Brut- oder Laborkasten, in welchem der abgründige Vertrag zwischen Faust und Mephisto mit Fausts Blut unterzeichnet wird, in dem am Ende dann aber auch Gretchen eingekerkert ist und ihr Leben aushaucht. Sehr einfallsreich sind die Kostüme von Leo Kulaš: Die Studenten in ihren marineblauen, kurzen Hosen, die düsteren, unheimlichen Engel im ersten Bild, die Meerkatzen-Hexen, die Schweine, Nachtfalter und Schnecken, Helena und der Satyr in der Walpurgisnacht (alle mit kunstvoll gefertigten Pferdefüssen). Ästhetisch, ja beinahe kitschig, auch die Projektionen der dunkel dräuenden Wolken (Videodesign: Tieri Burkhalter).
Zu bestaunen gibt es auch recht effektvoll choreografierte Massenszenen (Studenten, Engel, Hexen), und man kommt auch immer wieder zum Lachen oder zumindest zum Schmunzeln, ja FAUST ist durchaus witzig, da ist (auch bei Goethe) beileibe nicht alles bitterernst. Also, der Direktor dürfte zufrieden sein, hat er doch erneut eine Produktion, welche dem Publikum gefällt, für gut verkaufte Vorstellungen sorgen wird. Die Frage bleibt aber: Wird auch der künstlerische Anspruch eingelöst, wird in die Tiefe der Vorlage eingedrungen? Da bleiben für mich doch einige Fragezeichen. Eigentlich sollte ja der Tanz eine andere Ebene in das Stück einbringen. Die Sprache kann er ja nicht ersetzen, könnte aber durch Bewegung, durch Formationen etc. neue, innige Gefühlswelten erschliessen. Dies ist Edward Clug nicht durchgehend gelungen, da eigentlich verblüffend wenig richtig getanzt wird, zu wenig Körperlichkeit fassbar bleibt. Wie gesagt, die Massenszenen sind gut gemacht, aber die seelischen Befindlichkeiten, die Durchdringung der Charaktere bleiben weitgehend auf der Strecke, werden zu schnell abgehandelt, kaum je „ausgetanzt“. In Erinnerung bleibt zum Beispiel der Pas de deux von Faust und Mephisto im Brutkasten, da ist eine geradezu erotische Nähe zwischen den beiden und die Kraft spürbar, „die stets das Böse will und doch das Gute schafft.“
Matthew Knight als Faust zeigt nach seiner Verwandlung in einen schönen, aber zunächst schüchternen Jüngling eindrücklich das Liebesverlangen des jungen Mannes, beschnuppert das Bett, in dem Gretchen gelegen hatte, darf einen (viel zu kurz geratenen) Pas de deux mit Gretchen tanzen. Aber die eigentlich sehr zwiespältige, unsympathische Seite des Faust, seine ruhelose Suche nach Erkenntnis, die auch über Leichen geht („Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, die eine will sich von der andern trennen: Die eine hält in derber Liebeslust sich an die Welt mit klammernden Organen; die andre hebt gewaltsam sich vom Dust zu den Gefilden hoher Ahnen“) , wird vom Choreografen kaum herausgearbeitet. Der Mephisto hat es natürlich stets einfacher, das Publikum auf seine Seite zu ziehen. Daniel Mulligan macht das mit gekonnt eingesetztem Schalk, behänder Körperlichkeit, grossartiger Bühnenpräsenz, er wäre eigentlich der Drahtzieher, der alle wie Marionetten nach seinem Gusto tanzen lassen müsste, nur leider kommen sie wenig zum Tanzen. Giulia Tonelli zeigt als Gretchen (hier als Reinigungskraft dargestellt) eindringlich die inneren Kämpfe, welche das naive Mädchen auszufechten hat. Da ist einerseits ihre fast verschreckte Art der ersten Begegnung zwischen Faust und ihr, wo sie vor Schreck die Bierkisten fallen lässt, da ist aber auch die Szene in ihrem Zimmer, wo sie sich sexuelle Bedürfnisse zugesteht, zaghaft ihren Körper erkundet, sich dann aber wieder voller kindlicher Verspieltheit den Perlenketten zuwendet. Bezaubernd und übermütig gelingt Giulia Tonelli und Matthew Knight das intime erste Zusammensein, mit bedrückender Intensität gestaltet sie ihr zunehmendes Abdriften in den Wahnsinn, nachdem sie mit anschauen musste, wie Faust ihren Bruder mit dem Schwert (im Ritterfilm) niederstach. Dieser Verfall wird noch unterstrichen durch mehrere Gretchen-Doubles mit Wassereimern, welche ebenfalls um den Kinderwagen kreisen. Schliesslich packt Gretchen einen Eimer und ersäuft damit ihr Kind. Einer der wenigen wirklich ergreifenden Momente des Abends ist dann der Tod Gretchens: Giulia Tonelli sinkt ermattet im Brutkasten nieder, nur eine Hand streckt sie noch heraus – in der Hoffnung, dass wenigstens Gott sie ergreifen wird, wenn sie schon auf Erden keinen Halt gefunden hat.
Gelungen ist die Szene in Marthes Garten. Faust und Mephisto stecken zusammen in einem Paar Hosen, Marthe und Gretchen in einem Rock. Das führt zu echt komischen Szenen der zusammengewachsenen „Zwillinge“, einer der wenigen Momente des Abends, in dem ein Hauch von Virtuosität aufschimmert. Anna Khamzina ist eine quirlige Marthe. Als Valentin hat Alexander Jones einen im wahrsten Sinne des Wortes starken Auftritt auf der Breitleinwand. Christopher Parker tanzt einen devot dem Wissenschaftler-Star Dr.Faust ergebenen Wagner und Francesca Dell’Aria ist fast erschreckend dominierend sowohl als Hexe als auch als sich mit einem langen Kuss an Fausts Lippen festsaugende Helena in der Walpurgisnacht. Unheilvoll und bedrohlich stereotyp flattern die Engel, ausgelassen feiern die Studenten in grossen Szenen, welche vom Ballett Zürich und dem Junior Ballett hervorragend umgesetzt werden.
Ein ganz grosses Plus des Abends ist jedoch die Musik von Milko Lazar, welche er in enger Zusammenarbeit mit Edward Clug für dieses FAUST-Ballett komponiert hat. Es ist eine ungemein ausdrucksstarke Komposition, welche sich oft aus kleinsten Teilchen entwickelt, repetitive und crescendierende Elemente aufweist, mit spannenden Instrumentalfarben aufwartet, viel Cembalo ist da zu hören, barocke Anklänge wechseln mit Ostinati wie bei Ravels Boléro, oft weht Philipp Glass herein, ebenso prägen beruhigende Klangteppiche wie bei Pärt und stimmungsvolle Sequenzen wie bei Gorecki das Klangbild. Die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Mikhail Agrest werden dem teilweise soghaften und vielschichtigen Charakter der Komposition vollauf gerecht.
Alles in allem also ein wunderbares Faust-Klang-Bilderbuch (es ist ziemlich clean, taugt also für die ganze Familie), keinen Moment langweilig, man amüsiert sich über weite Strecken, ist ganz ganz selten etwas gerührt und fragt sich am Ende doch: Wo bleibt Faust?
Credits (c) Gregory Batadon