Aufführung am 6.02.2016
Es ist schon erstaunlich: SCHWANENSEE, das Ballett aller Ballette, Inbegriff des klassischen Handlungsballetts, hat in Zürich eine relativ bescheidene Rezeptionsgeschichte, wie dem sehr informativ gestalteten Programmheft zur diesjährigen Neuproduktion zu entnehmen ist. Erst 1956 kam es zu einer eigenen Produktion (Julius Berger) durch das Ballett des Stadttheaters (nachdem vorher nur Ausschnitte im Rahmen von Gastspielen zu sehen gewesen waren, aber immerhin mit Serge Lifar, 1942!). Beriozoff brachte den SCHWANENSEE ab 1965 beinahe 70 mal, Geoffrey Cauleys düster-romantische Interpretation stand ab 1974 zwei Jahre lang auf dem Spielplan, danach dauerte es 30 Jahre, bis Heinz Spoerli 2005 seine von kühler, geradliniger Ästhetik geprägte Interpretation vorstellte. Alexei Ratmansky hat sich nun für SCHWANENSEE auf eine akribische Spurensuche nach der Originalgestalt dieses Balletts begeben, unzählige Quellen erforscht und versucht, den SCHWANENSEE, wie er ursprünglich gedacht war und 1895 in St. Petersburg quasi zu seiner zweiten Uraufführung kam, in grösst möglicher Authentizität dem Zürcher Publikum zu präsentieren. Um es gleich vorweg zu nehmen: Es ist einfach nur schön, wunderschön. Das beginnt bei den Kostümen von Jérôme Kaplan (er zeichnet auch verantwortlich für das romantisierende Bühnenbild) mit ihren überaus geschmackvollen und detailverliebten, in leicht gedeckt gehaltenen Pastellfarben konzipierten Trachten und höfischen Kleidern für die Bilder I und III und den Träumen in Weiss für die Bilder II und IV. Die Tutus der Schwäne sind mehrlagig, bauschig, kurz oberhalb des Knies endend (nicht die steifen „Teller“ welche Florence Gerkan für Spoerli entworfen hatte). Für die Männer setzte man auf ausgesprochen enge, das maskuline Gesäss betonende Strumpfhosen.
Für seine Rekonstruktion von Petipas und Iwanows Originalchoreografie hat Alexei Ratmansky in Zürich ausgezeichnete, ja hervorragende Tänzerinnen und Tänzer zur Verfügung, vom diszipliniert und konzentriert agierenden Corps de ballets über die Interpretinnen der kleinen Schwäne (Meiri Maeda, Lou Spichtig, Michelle Willems und der an diesem Abend viel beschäftigten Giulia Tonelli), der grossen Schwäne (Juliette Brunner, Francesca Dell’Aria, Constanza Perotta Altube, Elizabeth Wisenberg) zu den Halbsolisten in den Nationaltänzen im dritten Bild. Bereits der eröffnende Pas de trois mit Yen Han, Giulia Tonelli und dem Benno von Andrei Cozlac zeigte das ausserordentlich hohe Niveau der Truppe. Giulia Tonelli begeisterte in ihrer Variation mit strahlender Anmut und fantastischer Fussarbeit, einer grossartigen Körperspannung bis in die Fingerspitzen. Cozlac imponierte mit weiten, sehr hohen Sprüngen, sauber ausgeführten Batteries. Yen Han glänzte einmal mehr mit ätherisch sauberem Tanz auf der Spitze, sowohl hier im Pas de trois, als auch im Bild drei im Csardas zusammen mit Cristian Alex Assis. Wunderschön in diesem Bild auch die Mazurka und der Neapolitanische Tanz (u.a. wieder mit Giulia Tonelli). In den weissen Akten bestaunte man die Präzision der 24 Schwäne (im letzten Bild waren auch sechs schwarze darunter, auch die wunderbare, vielseitige Giulia Tonelli war wieder mit dabei!).
Manuel Renard imponierte mit raumgreifenden Flügelschlägen als böser Zauberer Rotbart, Filipe Portugal gab einen trotteligen Wolfgang (Erzieher des Prinzen). Nora Dürig agierte mit deutlicher Pantomime als Königinmutter und versuchte ihren Sohn, Prinz Siegfried, zu verkuppeln. Alexander Jones war ein sehr eleganter Siegfried, seine Mimik verriet im ersten Bild eine leicht ironisch abgehobene Hochnäsigkeit. Er wandelte sich dann beim Anblick der Schwäne (und vor allem ihrer Königin Odette) in den schmachtenden Liebhaber. Sehr naiv liess er sich auf die burschikosen, selbstbewussten Verführungskünste von Odile ein und merkte zu spät, dass sie und Rotbart ihn mit Häme und Manipulation zum Narren gemacht hatten. Höhepunkte der Aufführung waren natürlich die beiden grossen Pas de deux von Viktorina Kapitonova (Odette/Odile) und Alexander Jones in Bild zwei und drei. Jones beeindruckte mit seinen weit greifenden, sauberen Sprüngen, den präzisen, sicheren Drehungen, dem weichen Aplomb. Viktorina Kapitonova gelang eine grandiose Interpretation der beiden Rollen: Als Odette erst verschüchtert sich dem Prinzen nähernd, dann in grosser Liebe entbrennend, mit wunderschön weichen Bewegungen und einem perfekten Port de bras tanzend (zur wunderbar gespielten Solovioline von Hanna Weinmeister). Ganz anders dann als Odile: In dem schwarzen, in Spektralfarben oszillierenden Tutu war sie eine herrlich durchtriebene Verführerin, manipulierend und selbst manipuliert durch Papa Rotbart. Ihre Fouettés waren von atemberaubender Präzision und lösten zu Recht einen Begeisterungssturm aus.
Begeistert war das Premierenpublikum von der ganzen Produktion. Ja, es war schön, sehr kulinarisch – und doch etwas blutleer. Man kann nicht sagen, dass dieser rekonstruierte SCHWANENSE museal oder verstaubt gewirkt hätte, wirklich nicht. Aber man vermisste die tiefer schürfende psychologische Durchdringung der Personen und ihrer Handlungsweisen. Vieles wirkte durch die stellenweise sehr antiquiert wirkende Pantomime zu betulich, irgendwie aus der Zeit gefallen. So auch der etwas "dick" aufgetragene Verklärungs-/Erlösungsschluss.
Zum Glück stiegen die Emotionen aus dem Orchestergraben hoch. Rossen Milanov am Pult der Philharmonia Zürich erzielte exzellente Sogwirkungen.Mitreissende, akzelerierende Tanzrhythmen wechselten mit wunderbar ausschwingenden Phrasen voller Melancholie und Elegie, herrlich trumpfte das Blech auf, prominent hervorgehoben erklangen die Kantilenen der Klarinetten und Oboen, die Soli der Harfe, des Cellos. Es ist schon eine tolle Musik, die der junge Tschaikowski für SCHWANENSEE komponiert hatte und welche an diesem Abend in Zürich so flott interpretiert wurde, inklusive der von Ricardo Drigo instrumentierten Klavierstücke op. 72, welche in diese Aufführung wieder integriert wurden.
Fazit: Schön, wunderschön und mit detailverliebtem Aufwand in Szene gesetzt– technisch brillant getanzt. Vielleicht aus heutiger (und meiner) Sicht etwas blutleer, aber das ist Geschmackssache.
Kaspar Sannemann 19.2.16
Bilder (c) Ballett Zürich / Judith Schlosser