Berlin: Kontraste im neuen „Abend des Staatsballetts“

Choreografien von einer Tänzerin und drei Tänzern des Staatsballetts Berlin präsentiert das neue vierteilige Programm der Compagnie mit dem Titel LAB_WORKS 2022 in der Komischen Oper. Es wurde entwickelt als Weiterbildungsprogramm für die Absolventen der Staatlichen Ballettschule Berlin – Fellows des „Enhance Mentorship Programme“. Die Initiative soll eine Brücke sein zwischen Schule und beruflichem Engagement mit täglichem Training, Master Classes von Ersten Solotänzern der Compagnie und mentalem Coaching.

Den Abend eröffnet Children of the Night auf eingespielte Musik von Antonio Vivaldi/Max Richter in der Choreografie von Alexander Abdukarimov. In ihrem absolut neoklassischen Stil und dem Tanz auf Spitze nahm sie sich in einem solchen Programm wie ein Fremdkörper aus. Immerhin war mit Aya Okumura und Dinu Tamazlacaru ein hochkarätiges Solopaar aufgeboten, das mit einem Duo tänzerische Höhepunkte einbrachte. Der Choreograf zeichnete auch für Bühne und Licht verantwortlich. Die Optik wurde vor allem von Videos auf der Rückwand der Bühne dominiert – kosmischer Spiralnebel, aber auch bizarre surrealistische Gebilde aus Menschenspinnen und maskierten Köpfen.

Der zweite Teil, Johnny McMillans Oh Captain auf eine Lärmcollage von Cosmin Nicolae, markierte den Höhepunkt der Premiere am 26. 5. 2022. Aus dem Orchestergraben fährt zu einem monotonen und sich später Ohren betäubend steigernden Geräusch eine Gruppe von Tänzern herauf, die sich in wellenartigen Bewegungen ergeht und deutlich homoerotische Züge aufweist. Zwei Männer finden sich in einem leidenschaftlichen, scheinbar unendlichen Kuss. Beider sich windende Körper können ekstatische Lust aber auch heftige Abwehr bedeuten. Auf der Bühne versammelt sich die furiose Tänzergruppe unter einem in der Höhe schwebenden, wannenartigen Behälter. Ein Tänzer steht lange regungslos, wie erstarrt und in Stein gemeißelt. Es ist der Choreograf selbst, der auch die Ausstattung und das Lichtdesign entwarf. McMillan vollbringt einen Solo-Auftritt, der physisch und mental an Wunder grenzt, zeichnet das Porträt eines Menschen im Ausnahmezustand. Die Szene wirkt bedrohlich und beklemmend. Sein Körper zuckt unter Krämpfen, scheint immer wieder am Ende seiner Kräfte und zusammenzubrechen. Es ist eine tour de force, wie sie derzeit auf der Berliner Ballettbühne nicht zu sehen ist.

Nach der Pause wird vor Beginn des zweiten Teils ein Film mit dem Titel Fellows eingespielt, der interessante Einblicke in die Probenarbeit gibt und Interviews mit den Künstlern bringt. Danach markiert der Beitrag This too shall pass in der Choreografie von Vivian Assal Koohnavard auf banale Unterhaltungsmusik den Tiefpunkt des Abends. Anfangs sind acht Tänzerinnen als Scherenschnitte vor einer weißen Rückwand zu sehen. Die modischen Trikots mit poppigen Dekors entwarfen Don Aretino und Muyao Zhang. Die Choreografie mit neckischen Bewegungen wie für Video-Werbe-Clips ist von läppischer Bedeutungslosigkeit. Später fährt aus dem Orchestergraben eine maskierte Tänzerin im violetten Trikot hervor. Eingespielt wird eine weibliche Stimme, die sich in Englisch über die Schönheit der weiblichen Anatomie ergeht (Voiceover: Vivian Assal Koohnavard).

Danach hatte es Arshak Ghalumyan, dem auch die künstlerische Leitung des Abends oblag, nicht schwer, mit seinem Stück Die Nacht noch einen interessanten Schlusspunkt zu setzen. Nikolai Korypaev hatte am Plafond mehrere Spiegel installiert, in denen sich das Licht und die Tänzer reflektierten. Mit ihren akrobatischen Breakdance-Elementen war die Choreografie ungemein wirkungsvoll – umso bedauerlicher, dass die Körper der Tänzer in Korypaevs Lichtgestaltung zu oft in diffuses Halbdunkel getaucht waren. Seltsam nahmen sich auch Lichtspiele aus, indem die Tänzer mit Lämpchen agierten, die im Dunkel wie Glühwürmchen schwebten. Auch der affenartige Bewegungsduktus im letzten Teil wirkte befremdlich, aber insgesamt war diese Arbeit ein diskussionswürdiges Angebot, das vom Premierenpublikum – wie die anderen Beiträge auch – enthusiastisch akklamiert wurde.

Bernd Hoppe, 26.5.22

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