Sankt Gallen: „Lorelei“, Alfredo Catalani

Premiere und schweizer Erstaufführung am 23.06.2017

Königin vom Tingeltangel

Lieber Opernfreund-Freund,

nachdem Catalanis „La Wally“ in den vergangenen Jahren auf der einen oder anderen europäischen Opernbühne wieder auf dem Spielplan stand, scheint nun die Zeit für die Wiederentdeckung seiner „Loreley“ gekommen. Das 1890 in Turin uraufgeführte Werk erlebte gestern im Klosterhof Sankt Gallen unter freiem Himmel seine Schweizer Uraufführung im Rahmen der 12. St. Galler Festspiele und damit seine erste Produktion in Europa seit über 14 Jahren.

Das Werk ist eine Umareitung von Catalanis erster abendfüllender Oper „Elda“ aus dem Jahr 1880, die seinerzeit mit ihrer Spieldauer von über vier Stunden beim Turiner Publikum nicht wirklich Gefallen fand, und behandelt im Wesentlichen die Loreley-Geschichte von Clemens von Brentano: Walter hat sich in das Waisenmädchen Loreley verliebt, soll aber Anna von Rehberg heiraten und vertraut sich deshalb seinem Freund Hermann an. Obwohl dieser selbst in Anna verliebt ist, rät er Walter, sich von Loreley zu trennen. Die verstoßene und enttäuschte Loreley ruft die Geister des Rheines an, ihr zu helfen und sie mit unwiderstehlicher Schönheit auszustatten. Dafür verspricht sie sich dem König des Rheins. Am Tag der Heirat erscheint die verwandelte Lorely auf der Hochzeit von Anna und Walter und zieht ihn durch ihren betörenden Gesang erneut in ihren Bann. Anna stirbt an gebrochenem Herzen und Walter bleibt verlassen zurück. Als er Loreley wiederfindet und ihr seine Liebe beteuert, geht sie auf ihren Platz auf dem Felsen am Rhein, den ihr der Rheinkönig zugewiesen hat. Walter ertränkt sich daraufhin im Rhein, während Loreley erneut ihr verführerisches Lied anstimmt.

Zu dieser märchenhaften Geschichte hat Alfredo Catalani bezaubernde, oft stark romantisierende Melodien ersonnen, pflegt einen lyrisch-verspielten Kompositionsstil und malt schillernde Farben aus Klang. Das war aber schon bei der Uraufführung 1890 nicht mehr wirklich zeitgemäß – kaum zwei Jahre später war die Zeit bereits gekommen für den effektvollen, leidenschaftlich aufgeladenen Verismo der „Cavalleria rustivana“. Die Aufwertung des Orchesters, das bei Catalani oft wesentlich mehr ist, als bloßer Begleiter der Sägner auf der Bühne und die er in seiner drei Jahre später uraufgeführten „Wally“ noch weiter vervollkommnet, ist auch in der „Loreley“ mit ihren ausgedrehnten Stimmungs- und Balletszenen spürbar. Auf den letzten Wogen der Wagenrismo-Welle spielt der gebürtige Lucceser aber auch gern mit orchestraler Wucht.

In der „Loreley“ sind Geisterwesen allgegenwärtig, Rheinnixen und Alberich, Hexen und Naturgeister sind wie selbstverständlich Teil der Handlung. Dies nimmt Regisseur David Alden zum Anlass für seine durchaus gewöhnungsbedürftige Lesart des Werkes. Er verlegt die Geschichte in die Überreste eines Vergnügungsparks, der mit den Protagonisten wieder zum Leben erwacht. Walter ist ein goldkettchenbehangener Womanizer im James-Dean-Look, sein Nebenbuhler Hermann steht selbst mit dem Teufel im Bunde, der seinen Pakt gerne mit einem Glas Bier besiegelt. Loreley bezahlt ihre Unwiederstehlichkeit mit körperlicher Übereignung – und endet als Hure in der „Bar Loreley“, in der ihre einstige Schönheit verlebt, die Liebe nur vorgespielt und das augenscheinliche Glück käuflich, aber flüchtig ist – eben wie in einem Vergnügungspark, in dem alles nur Attrappe bleibt. Mag dieser Ansatz auch beim einen oder anderen Festspielbesucher Befremden hervorgerufen haben, ganz unschlüssig ist er nicht. Dazu hätte Alden allerdings stringent bei der Abkehr von der Rheinfelsengeschichte bleiben und seiner skurrilen Bilderwelt voller Mini-Loreleys mit „Chucky die Mörderpuppe“-Masken, gefallener Strassenmädchen und düsterer Gesellen treu bleiben müssen. Das allerdings traut er sich nicht, lässt die Schöne immer wieder auf einen Felsen klettern. Bühnenbildner Gideon Davey hat ihm hier zu allem Überfluss auf der ansonsten im Regiekontext durchaus gelungenen Bühne voller Geister- und Achterbahnreste, Wald und Märchenschloss ein Stück alpinen Berg statt des weltberühmten Felsens im Mittelrheintal untergejubelt (vielleicht als Reminiszenz an den schweizer Aufführungsort). Die bunten, teils schrillen Kostüme von Jon Morell hingegen sind ein einziger Augenschmaus, der in der Robe für die Braut Anna und Loreleys atemberaubendem glänzend-roten Kleid mit gefühlter 100qm-Schleppe seinen Höhepunkt findet.

Glänzend musiziert wird ebenfalls. Stefan Blunier am Pult des Sinfonieorchesters St. Gallen hat hörbar Freude an der feinen Partitur Alfredo Catalanis, geniesst die teils fast kitschigen Melodienbögen und vollbringt zusammen mit den Sängerinnen und Sängern die Meisterleistung, an einem Abend, an dem es sich bei allen Beteiligten um Rollendebuts handelt, den Eindruck entstehen zu lassen, man hätte das Stück schon unzählige Male zusammen auf und über die Bühne gebracht. Mit geübtem Spürsinn für musikalisches Timing, spielt er die komplette Klaviatur der Tempi und Orchesterfarben, trumpf auf, ohne zu übertönen, und wogt sanft und gefühlvoll, ohne zu viel Sentimentalität zuzulassen. Die Litauerine Ausrine Stundyte mag dem einen oder anderen noch aus ihrer Zeit als Ensemblemitglied in Köln oder Lübeck ein Begriff sein. Sie singt schlicht göttlich und trägt die Rolle der Loreley mit so viel Innbrunst vor, zeigt Gefühlsausbrüche ebenso überzeugend wie verführerisch-betörende Höhenpiani, dass es nicht verwundert, dass Walter – ach, dass alle Männer ihr verfallen. Timothy Richards muss sich dagegen offensichtlich erst warm singen – aber ab dem zweiten Akt zeigt der aus Wales stammende Tenor sichere Höhe und große Leidenschaft, auch wenn er mir allzu oft zum Tremolo neigt. Sein vokaler Gegenspieler Giuseppe Altomare gibt den Hermann mit tiefgründigem Bariton voller dunkler Farben, während Tatjana Schneider als bedauernswerte Anna die feinste Höhe ihres klaren Soprans zeigt.

Tomislav Lucic überzeugt ebenso in der leider recht kurzen Rolle der Markgrafen Rudolf wie der ganze Strauß an Chören, der sich gestern versammelt hat, um die umfangreiche Chorpartie gemeinsam zu stemmen. Neben dem Chor des Theaters Sankt Gallen, dem Opernchor St. Gallen, dem Theaterchor Winterthur und dem Prager Philharmonischen Chor war noch der Kinderchor des Theaters St. Gallen notwendig, um alle Bauern, Jäger, Holzfäller, Hexen, Bäuerinnen, Nixen und Kinder auf der Bühne zum Leben zu erwecken. Michael Vogt, Matthias Heep, Jakub Zicha und Terhi Kaarina Lampi haben deren Einstudierung übernommen und die Damen und Herren – auch die jüngsten – zu wahren Höchstleistungen angespornt. Schlussendlich haben auch die Tänzerinnen und Tänzer der Tanzkompanie des Theaters St. Gallen großen Anteil am Unterhaltungswert des Abends, die originellen Choreografien von Beate Vollack lassen im zweiten Akt wahre Volksfeststimmung aufkommen und erzeugen schwelende Bedrohung im Schlussbild.

Die Zuschauer sind nach gut zweieinhalb Stunden vom Gehörten begeistert, vom Gesehenen zum Teil verstört. Das Produktionsteam schleicht sich im Schlussapplaus irgendwie von der Seite auf die Bühne, vermeidet aber dadurch nicht die eine oder andere lautstarke Unmutsbekundung seitens des Publikums.

Trotz einer hier nicht ganz optimalen Umsetzung – gerade bei einer so großen Rarität in diesem außergewöhnlichen Rahmen hätte man es vielleicht doch eine Prise konventioneller angehen können – lohnt der Weg in die Schweiz allein wegen des außerordentlich hohen musikalischen Niveaus, das die Beteiligten dieser Produktion neben ihrer offensichtlichen Spielfreude vereint.

Ihr Jochen Rüth 24.06.201

Die Fotos stammen von Toni Suter, T + T Fotografie.