Berlin: „Golem“

Lohnende Entdeckung in Neukölln

Kurz nach acht Uhr wusste man nicht so recht, ob die Oper „Golem“ von Nicolae Bretan bereits begonnen hatte, denn zu hören war noch nichts, obwohl die dreifachen Videofilme bereits liefen, die Darsteller sich auf der Bühne zu schaffen machten. Kurz vor neun Uhr war man im Zweifel darüber, ob das Werk schon zu Ende war, denn das Licht blieb ausgeschaltet, bis schließlich die Mitwirkenden sich verbeugend auf einer der Videowände erschienen, auch noch, nachdem der Beifall bereits verebbt war.

Der 1924 mit großem Erfolg zum ersten Mal in Cluj aufgeführte Einakter „Golem“, den es in Deutschland nun mit dem Pionierwerk der Neuköllner Oper zu erleben gibt, ist nur auf einer Einspielung von Nimbus mit dem Philharmonischen Orchester von Moldawien zu haben, wurde in deutschsprachigen Landen nur in St. Gallen einmal aufgeführt. Nun gestattete die über neunzigjährige Tochter des Komponisten, die auch bei der Premiere am 11.6. anwesend war, die Umformung der Partitur in eine für Kammerorchester aus Trompete, Oboe, Klarinette, Bassklarinette, Violine, Cello und Kontrabass sowie Klavier, von dem aus Tobias Schwenke, der auch für die Arrangements verantwortlich war, die Aufführung leitete. Die Reduzierung auf wenige Instrumente kommt weniger der spätromantischen Seite der Partitur zugute, als dass sie die jiddischen, zigeuner- oder operettenhaften Züge betonte, das Stück von der Großen Oper zugunsten kabarettistischer Elemente etwas entfernte. Damit werden auch die vielfältigen Einflüsse, denen der Komponist, der in Rumänien, Ungarn und Österreich lebte, ausgesetzt war, besonders deutlich.

Das Libretto schildert nicht die Erschaffung des Golem durch den Rabbi Löw , sondern beginnt, wenn die Probleme, die mit seiner Existenz verbunden sind, sich bemerkbar machen. Das Wesen aus Lehm hat Gefühle, ausgerechnet für die Tochter seines Schöpfers, würde dieser aber mit der Verwirklichung seiner Träume den Tod bereiten. So bleibt dem Rabbi nichts anderes übrig, als das Kunstwesen, dessen Vermögen er falsch eingeschätzt hat, wieder zu zerstören, was die Tochter Anna in Verzweiflung stürzt. Parallelen zur heutigen Zeit mit ihrem Bestreben, dem Menschen dienstbare und ihn ersetzende Roboter aller Art zu schaffen, die eines Tages aus Bediensteten zu Herren werden könnten, liegen auf der Hand und machen auch den Inhalt, ganz abgesehen von der Musik, interessant.

Pia Dederichs hat auf die Bühne puppenstubenartige zwei Zimmer gestellt, dazu im Hintergrund das keusche Schlafgemacht von Anna. In einem Verlies mit in den Boden eingelassenem Wasserbecken haust der Golem, des Schreibens mächtig, denn unzählige Schriftzüge des geliebten Namens Anna schmücken die ansonsten kahlen Wände. Kleinbürgerlich haust daneben komfortabler der Gelehrte Löw mit Tochter und Famulus. Die Kostüme könnten in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg getragen worden sein, zumindest das weiße Gewand Annas. Während in der unteren Etage sich die Handlung abspielt, wird diese oben, mal synchron, mal nicht, mal dreifach, mal aufgeteilt auf einzelne Schauplätze als Videos (Steffen Kraska), ebenfalls wiedergegeben. Dabei soll offensichtlich der Anschein erweckt werden, sie entstünden erst im gleichen Augenblick durch das Wirken von Mara Vlachaki, die mit der Kamera über die Bühne eilt.

Der Regie von Paul-Georg Dittrich gelingt es, etwas von der unheimlichen Atmosphäre, aus der heraus die Figur des Golem im Mittelalter entstanden ist, mit dessen verzweifeltem Bemühen, ein Mensch auch um den Preis der Sterblichkeit zu werden, zu verknüpfen. Allen Figuren, am wenigsten noch dem Golem, wohnt etwas Bizarres, Groteskes inne, das sie zu Geschöpfen des Expressionismus macht, der sich der Figur mehrfach annahm, so mit dem Paul-Wegener-Film. Sogar die engelsgleiche Anna ist von allerlei Tics befallen, schlitzt sich die Arme auf und scheint unsicher in ihrer Hinwendung zum Golem. Ulrike Schwab singt sie mit herbem, rollengerecht auch zeitweise scharf werdendem Sopran. Der Diener Baruch hat nicht nur lobenswerte Absichten gegenüber seinem Herrn und dessen Tochter und beschränkt sich durchaus nicht aufs Falten von Papierfliegernr. Lars Feistkorn darf ihm nur wenige, aber besonders kraftvolle Basstöne entlocken. An seine heldentenorale Vergangenheit erinnert James Clark, wenn er durchaus noch trompetengleich den Raum füllen kann, aber auch hin und wieder in Sprechgesang verfällt. Die beste vokale Leistung kommt sicherlich von dem Bariton Martin Gehrke, der eine farbige, substanzreiche Stimme einsetzen kann, die er ruhig auch ab und zu etwas zurücknehmen könnte für die schönen Sehnsuchtstöne, die der Komponist für ihn geschrieben hat.

In den letzten Jahren hat es viele Entdeckungen von Opern aus Deutschland vertriebener oder in Deutschland zum Verstummen gebrachter Komponisten und ihrer Musik gegeben. Mit dem Bretans wird man mit einem ganz anderen und doch vergleichbaren Schicksal bekannt gemacht. Der Komponist, der sich nicht nur Nicolae nannte, sondern auch zeitweise die deutsche oder ungarische Form seines Namens benutzte, gelangte trotz beachtlicher Erfolge als Komponist, Bariton oder Operndirektor nie zu einer auskömmlichen Existenz, musste seine Werke, zu denen neben Opern auch zahlreiche ungarische und deutsche Lieder gehören, auf Klavieren von Freunden komponieren.

Nicht ein Opfer der Naziherrschaft wurde er, sondern eines der Kommunisten, die ihn seines Amtes enthoben, weil er nicht in die Partei eintreten wollte. Seine Werke wurden nicht aufgeführt, abgesehen von seinem Requiem 1955, in dem er selbst auch als Sänger auftrat. 1968 ist er gestorben. Er hat es verdient, dass man sich auf seine Kompositionen besinnt, und die Neuköllner Oper hat sich ein besonderes Verdienst damit erworben, mit dem „Golem“ auf sie aufmerksam zu machen.

Fotos Matthias Thiel

11.6.2015 Ingrid Wanja

OPERNFREUND-CD-TIPP

BUCHTIPP