Essen: Wenn Stille hörbar wird…

Pjotr I. Tschaikowski
Konzert D-Dur für Violine und Orchester, op. 35

Dmitri Schostakowitsch
Sinfonie Nr. 11 g-Moll, op. 103 „Das Jahr 1905“

Schostakowitschs 11. in begnadeter Interpretation

Die 11. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch ist natürlich in gewisser Weise programmatische Musik. Hier zeigt sich wieder die Doppelbödigkeit von Schostakowitschs Werken. Offiziell geht es um die Revolution von 1905; in Wahrheit hatte der sensible, politisch mitdenkende und handelnde Komponist aber noch die russische Aggression in Ungarn blutig vor Augen. Die Sinfonie ist in die sogenannte "Tauwetterperiode" nach Stalins Tod zeitgeschichtlich einzuordnen. Schostakowitsch wurde für diese Sinfonie mit Preisen geradezu überhäuft und kein geringerer als André Cluytens dirigierte die Uraufführung. Dass diese Sinfonie sogar mit dem berühmten "Lenin Orden" ausgezeichnet wurde ist schon ein makabrer Treppenwitz der Geschichte. Und wer Ohren und genug Sensibilität hat, wird schon bei den ersten leisen Tönen diesen Aufschrei spüren. Diese Sinfonie ist eine Anklage; eine stille Mahnung. Es ist Musik, die unter die Haut geht…

Die superben Wiener Philharmoniker unter dem vielleicht zur Zeit besten und intelligentesten Dirigenten Ingo Metzmacher setzten die Zuhörer von der ersten bis zur letzten Sekunde dieses 70-minütigen grandiosen Mammutwerkes unter Strom; eine Spannung, die nie nachließ. Musik die subkutan den Zuhörer angreift, anfangs nur leicht köchelt, dann brodelt und stellenweise auch eruptiv explodiert. Das alles gelang so brillant und selbst für einen Schostakowitsch-Fan wie den Rezensent, dessen Erfahrungserlebnisse mit dieser Musik in den letzten 45 Jahren im dreistelligen Bereich der persönlichen Statistik liegen, einfach unerhört – ungehört! Nie so gehört!! Ich erlaube mir daher, diese Interpretation als ein "Jahrhundertkonzert" zu bezeichnen. Diese mit Worten gar nicht hoch genug zu bewertende Aufführung/Interpretation liegt mir auch zwei Tage später noch erschütternd und beeindruckend auf der Seele.

Im Vorfeld gab es beste Stradivari-Klänge. Wie wunderbar eine 1713 gefertigte "Gibson ex Huberman" klingen kann, stellte der zeitgenössische Paganini unter den Violinisten, Joshua Bell dem, mit offenen Augen, Ohren und stellenweise auch Mund, verblüfft und wenig hustenden Essener Publikum mit Tschaikowskis Violinkonzert in D-Dur furios unter Beweis. Bell meisterte die Hochschwierigkeiten des einst als unspielbar geltenden Konzertes mit Bravour und Souveränität. Dankenswerter Weise gab es keine Zugabe; das wäre bei dem grandiosen Stück einfach stillos gewesen.

Und wieder ein – was ich übrigens schon seit Jahren schreibe – überwältigender Beweis für die sensationelle Akustik der Essener Philharmonie. Dagegen ist die Hamburger Alptraum-Philharmonie (Ole-von-Beust-Steuerverschwendungs-Pyramide), wo man stellenweise Huster lauter hört als den Solisten, ignorabel. Freut Euch, liebe Essener und vielfältig Zureisende, was Ihr hier für ein wirkliches "8. Weltwunder" habt ;-))) !

Fazit: Ein Jahrhundertkonzert, welches der Rezensent tief in seinem Herzen in der Schostakowitsch-Kammer für immer freudvoll und entzückt verschließen wird. Und weinen mögen alle ewiglich, die diesen Abend, für welches es sogar noch einige Karten an der Abendkasse gab, verpasst haben…

Peter Bilsing 26.1.2017

Fotos (c) Philharmonie Essen / Lorenz

OPERNFREUND CD-TIPP

Platz 1

Platz 2

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