Köln: Gürzenich-Orchester & Nicholas Collon

featuring Nils Mönkemeyer (Viola)

Erotische Fantasien

Der junge Brite Nicolas Collon hat das Gürzenich-Orchester vor zwei Jahren zwar schon einmal geleitet, aber seine Berufung zum ersten Gastdirigenten des Klangkörpers bestätigten erst jetzt „offiziell“ die aktuellen drei Abo-Konzerte. Dass Collon gewillt ist, künftig auch in der Oper tätig zu werden, unterstreicht sein nachdrückliches Engagement vor Ort.

Das jetzige Programm frappierte durch Vielgestaltigkeit, obgleich es sich auf die Moderne konzentrierte. Claude Debussys „Prélude à l’après-midi d’un faune“ von 1891/94 ist mit seinem Aufbruch in neue Klangwelten dieser noch hinzuzurechnen, sogar Richard Wagners romantisches Musikdrama „Tristan und Isolde“ (Vorspiel und Liebestod) bedeutet Zukunftsmusik. Nicht von ungefähr dient es zeitgenössischen Komponisten nach wie vor als inspirative Orientierung. Maurice Ravels Ballett „Daphnis et Chloe“ (zweite Suite von 1913) ist bereits ein Kind des 20. Jahrhunderts. Mit seiner trotz starker Dur-Verhaftung vorwärts weisenden Musik vertiefte es den Abend darüber hinaus mit dem unerschöpflichen Thema Eros.

Im „Faune“ ist es – anders als bei „Daphnis“ – waltet eher noch der Gedanke bzw. die Erinnerung als die Tat. Das Pianissimo-Gemurmel der Flöte kontrastiert extrem zu den Extasen von Ravels finalem „Danse génerale“, bei welchem nicht weniger als zehn Schlagzeuger gefordert sind. Zwischen diesen beiden Werken Wagners „Tristan“-Musik, wo Klangrausch von Verklärungsmilde gebändigt wird.

Auch Béla Bartóks Bratschenkonzert ist in diesem Themenkomplex zu verankern. Die entsprechenden Assoziationen im Programmheft gehen vielleicht ein wenig zu weit, auch wenn der Musik partieller Sehnsuchtscharakter sicher nicht abzusprechen ist (so gleich beim Soloauftakt des Introduktionssatzes). Aber der Komponist dachte bei seinem allerletzten Werk vor allem wohl an Erwartungen des vorgesehenen Uraufführungs-Interpreten William Primrose. Und das virtuos konzipierte Finale mit seiner folkloristischen Tönung ist ein unzweideutig fröhlicher Kehraus. Ob Bartók beim Schreiben seine Leukämieerkrankung verdrängte, welche ihm eine Vollendung des Konzertes versagte (die übernahm sein Schüler Tibor Serly)? Am ehesten wird man beim Dur-gemilderten Adagio religioso an tiefer lotende Emotionsschichten denken wollen.

Offen bleibt weiterhin die Frage, ob sich Nicolas Collon seinerseits für das Werk nicht auch als ehemaliger Bratscher ausgesprochen hat, wobei die Aussicht auf eine Musizierpartnerschaft mit Nils Mönkemeyer zusätzlich stimulierend gewesen sein könnte. Dass diese Vermutung nicht ganz abwegig ist, zeigt die dem Konzert vorgeschaltete Pentatonic Etude“ von Esa-Pekka Salonen, welche mit ihren Rückgriffen auf Bartóks Konzert musikdramaturgisch als Präludium für dieses angesehen werden könnte. Es handelte sich übrigens um die Deutsche Erstaufführung des Sieben-Minuten-Stückes. Selbst die Zugabe, „Dream“ von John Cage (Solo-Bratsche und Bratschen-Ensemble), ist als Konzeptergänzung anzusehen.

Wie Salonen/Bartók wurden auch György Ligetis „Atmosphères“ und Ravel attacca gespielt, wobei das fast tonlose Ende des nur aus breit gestreuten Klangflächen bestehende Ligeti-Werk sich mit dem „Lever du jour“ bei Ravel akustisch ideal verzahnte. Ansonsten wäre der Titel „Atmosphères“ im Grunde auf das gesamte Konzertprogramm anzuwenden.

Nils Mönkemeyer bewältigte das extreme Spieltechniken fordernde Bartók-Konzert mit eminenter Bravour und tonsatter Emotion, unterstützt vom sicher steuernden Nicholas Collon und den sattelfesten Gürzenich-Musikern. Die atmosphärisch individuellen Stimmungen bei Debussy und Ravel wurden mit vorbildlicher Sensibilität ausgekostet, wobei hier wie dort der Flötist Sunghyun Cho mit narkotischen Spiel hervortrat. Bei Cages „Dream“ avancierte Junichiro Murakami (Gast aus dem WDR Sinfonieorchester) zum besonderen Solopartner von Nils Mönkemeyer.

Bei den „Tristan“-Ausschnitten lenkte Nicholas Collon das Orchester in einen bestechenden Klangrausch, wobei die Themenübergaben innerhalb der Streichergruppen ohne akustische Zäsur verliefen, wie es nicht immer so perfekt zu erleben ist. Der Gedanke dürfte übrigens nicht zu weit hergeholt sein, dass die finale Extase von Ravels Musik (sie evozierte großen Jubel) und der Pianissimo-Beginn bei Debussy von den Veranstaltern auch als konzeptioneller Akzent verstanden wurde.

Christoph Zimmermann 20.2.2018

Bilder (c) Holger Talinski, Benjamin Ealovega