Bremen: „34. Musikfest“, Teil 1

Abwechslungsreich und auf höchstem Niveau

Auch beim diesjährigen Musikfest konnte man sich einen musikalischen Blumenstrauß zusammenstellen, der in allen Farben leuchtet. Die Mischung aus verschiedenen Bereichen, etwa Klassik und Jazz, ist ein Markenzeichen des Musikfests. Das Konzert der Bigband des Hessischen Rundfunks (hr-Bigband) unter der Leitung von Jörg Achim Keller und mit der Sängerin Lisa Simone im BLG-Forum. war ein absoluter Volltreffer. Lisa Simone steht ihrer berühmten Mutter Nina Simone in puncto Stimmgewalt und Ausdruckskraft in nichts nach. Das Zusammenspiel zwischen der Sängerin und der hr-Bigband klappte (nach nur kurzer Probenzeit) perfekt – dabei ist es sechs Jahre her, dass sie zusammen musiziert haben. Die hr-Bigband ist ein Ensemble allererster Güte. Gleich beim Intro mit „Moanin‘“ konnten etliche Musiker ihre solistischen Qualitäten präsentieren. Der satte Bläsersound, die rhythmische Energie und das variationsreiche Spiel überzeugte bei den vielen Stücken, die die Band allein bestritt. Hier stammen die meisten Arrangements von Jörg Achim Keller, bei den Songs von Lisa Simone sind sie von Ken Moyer.

Grubinger & Friends, © Nikolai Wolff

Lisa Simone konnte von Beginn an mit ihrer wandlungsfähigen Stimme begeistern, die sich durch Kraft und Farbe auszeichnet. Das Programm, auch mit vielen Songs ihrer Mutter Nina Simone, war abwechslungsreich und ausgewogen. Da standen Balladen wie „Hold no Grudge“ oder „Wild ist he Wind“ neben einem emotionalen Blues wie „Do I Move You“, neben dem swingenden „Work Song“ oder dem entspannten, sehr melodiösen „Pay Em No Mind“. Keller und seine Band steuerten viel Drive aber auch einen traumhaften Bläserteppich bei. Zu den Höhepunkten zählten neben den temporeichen Nummern „Go To Hell“ und „Love Me or Leave Me“ natürlich der Song, den man besonders mit Nina Simone verbindet: My Baby Just Cares For Me“. Große Begeisterung für ein großes Konzert! (25. August 2023)

Nach „La Traviata“ 2019 und „Rigoletto“ im letzten Jahr ist mit Il Trovatore Verdis sogenannte „Trilogia popolare“ (populäre Trilogie) komplett. Die Opern stehen zwar in keinem inhaltlichen Zusammenhang, sind aber alle in dem kurzen Zeitraum zwischen 1851 und 1853 uraufgeführt worden und zählen zu Verdis beliebtesten Werken.

Auch die konzertante Aufführung des Trovatore in der Glocke war ein voller Erfolg.  Jérémie Rhorer und sein Orchester Le Cercle de l’Harmonie sorgten mit hervorragenden Solisten für ein wahres Sängerfest. Bei vergangenen konzertanten Aufführungen deuteten die Solisten trotzdem szenisches Agieren an. Das war diesmal kaum der Fall: Wenn Leonora etwa ihren Manrico direkt ansingt, dieser aber am Bühnenrand noch in seinen Noten blättert, ist das eher merkwürdig. Dennoch wurden auch optisch Akzente gesetzt: Als Hintergrundprospekt war ein sehr stimmungsvolles Bild „Milchstraße über der Burg Zafra in Aragonien“ zu sehen.

Lisa Simone, © Nikolai Wolff

Rhorer hat für seine Aufführung fast alle Striche aufgemacht, so gab es beispielsweise nach dem Miserere Leonoras sonst fast nie gespielte Cabaletta „Tu vedrai che amore in terra“ zu hören. Aber die ungekürzte Fassung ist eine Erklärung dafür, dass die meisten Solisten oft auf ihr Notenpult schauten.

Olga Peretyatko hat im letzten Jahr als Gilda in „Rigoletto“ begeistert. Auch bei der Leonora konnte man ihre makellose Gesangskunst bewundern. Ihr sehr ausgeglichener und ebenmäßig geführter Sopran spricht in allen Lagen gut an. Mit perfekter Phrasierung lässt sie Töne aufblühen oder bezaubert mit einem herrlichen Piano. Nicht nur die Arie „D’amor sull‘ ali rosee“ im vierten Akt mit ihren Trillern lässt keine Wünsche offen. Ihre emotionale Gestaltung geht direkt ins Herz.

Direkt ins Herz ging auch der Gesang von Ariunbaata Ganbaatar, der als Graf Luna rundum beeindruckte. Der Bariton aus der Mongolei verfügt über eine ausgesprochen kraftvolle Stimme mit einem virilen, dunkel getönten Timbre. Er gestaltete seine Partie mit elementarer Wucht, aber auch mit vielen Zwischentönen. Seine Duette mit Leonora und mit Azucena gingen mit ihrer ungebremsten Dramatik unter die Haut.

Die Partie der Azucena konnte Agnieszka Rehlis mit nachhaltigem Profil gestalten. Bei ihr loderten Leidenschaft und Hass mit einer Intensität, die wie zum Greifen präsent war. Sie setzte auch szenische und mimische Akzente. Mit ihrem tiefen Brustregister konnte sie ganz aus dem Vollen schöpfen.

Der Tenor Ivan Magrì ließ sich als gesundheitlich angeschlagen ansagen, war aber dankenswerterweise bereit, den Manrico zu singen. Man musste zwar vor der Pause ein paar Einschränkungen hinnehmen, im zweiten Teil konnte er sich aber zu einer ansprechenden Leistung steigern. Die Arie „Ah! sì ben mio coll’essere“ sang er mit viel Schmelz – und auch die Stretta schmetterte er mit beachtlicher Verve.

Oper Il Travatore in der Glocke, © Hannes von der Fecht

Die relativ kurze, aber wichtige Partie des Ferrando wurde bei dem aus Odessa stammenden Bassisten Alexander Tsymbalyuk fast zu einer Hauptpartie. Im letzten Jahr beeindruckte er schon als Sparafucile im „Rigoletto“. Das gelang ihm in diesem Jahr nicht minder. Mit seiner profunden Tiefe gestaltete er Ferrandos Erzählung gleich zu Beginn der Oper derart fesselnd und suggestiv, dass sie zu einem frühen Höhepunkt des Abends wurde.

Ansprechend präsentierte sich auch Sylvia d’Eramo, die aus der Ines mehr als eine Stichwortgeberin machte.

Von seiner besten Seite zeigte sich einmal mehr der Musikfest Bremen Chor in der Einstudierung von Detlef Bratschke. Die fahlen, gespenstischen Gesänge beim Miserere überzeugten Ebenso wie der berühmte Zigeunerchor.

Jérémie Rhorer und das Orchester Le Cercle de l’Harmonie musizierten ihren Verdi mit Sinn für Feinheiten und da, wo es angebracht war, mit „knalligen“ Zuspitzungen. Die Wahl seiner Tempi war durchweg plausibel. Nur kurz vorm Finale des zweiten Aktes wurde die Musik etwas zu gemächlich. Gleichwohl – ein Opernabend der in bester Erinnerung bleiben wird. (26. August 2023

© Caspar Sessler

Er ist seit 2016 Stammgast beim Bremer Musikfest , sorgte stets für besondere Klangerlebnisse und uneingeschränkte Begeisterung: Der Perkussionist Martin Grubinger ist ein Phänomen, der das Publikum weltweit in seinen Bann zieht. Nun beendet er mit erst vierzig Jahren seine Bühnenkarriere, um sich als Professor in Salzburg noch intensiver dem Nachwuchs widmen zu können. Seine letzten Konzerte in Deutschland gab er jetzt beim Bremer Musikfest. Seine Mitstreiter sind Alexander Georgiev und Jürgen Leitner (Schlagwerk) sowie die Zwillinge Fenhan und Ferzan Önder (Klavier).

Im Gepäck hatte er drei Werke: Le sacre du printemps von Igor Strawinsky, das Konzert für Schlagzeug von Fazil Say und Tears of Nature von Tan Dun. Alle drei sind ursprünglich Orchesterwerke, die von Martin Grubinger sen. für drei Schlagzeuge und zwei Klaviere eingerichtet wurden.

Strawinskys Ballett über ein archaisches Opferritual ist geprägt von stampfenden Rhythmen und eruptiven Orchesterausbrüchen. Es ist eine Klangwelt ganz eigener Art, die in der Fassung für Schlagzeuge und Klaviere verlassen wird, aber durch eine ganz andere, ebenso überzeugende ersetzt wird. An Vibraphon, Pauken, Glocken-Klangstäben und anderen Instrumenten entfachte das Ensemble mit unglaublicher Härte und atemlosen Drive, aber auch mit zarten Episoden eine furiose Wiedergabe, die von Anfang bis Ende fesselte. Die Klaviere (hier ein Doppelflügel) wurden dabei wie Schlaginstrumente eingesetzt.

Fazil Say hat sein Konzert seinem Freund Martin Grubinger gewidmet. Anlass war die Geburt von Grubingers Sohn. Die vier Sätze sind nach dem jeweils führenden Instrument bezeichnet: Waterphone, Rototoms, Vibraphone und Marimba. Die sehr unterschiedlichen Stimmungen der Sätze wurden von den Musikern deutlich herausgearbeitet. Da standen extrem rhythmische Passagen neben fast wiegenliedartigen Momenten, kraftvoll gesteigerte Ausbrüche neben wie ins Nichts verdämmernden Klängen.

Auch Tan Dun hat seine Tears of Nature  2012 Martin Grubinger gewidmet. Die drei Sätze verarbeiten verschieden Katastrophen: die in Fukushima, ein Erdbeben in Südostchina und die Terroranschläge 2001 in New York. In allen Sätzen kommt die bedrohliche Atmosphäre deutlich zum Ausdruck. Abes es mischen sich auch tröstliche Naturklänge wie das Aneinanderschlagen von Steinen oder das Geräusch von Wasser ein. Eine fernöstliche Melodie steht für Ruhe und Hoffnung. Dem Ensemble gelang eine kraftvolle, manchmal in ihrer Heftigkeit geradezu überwältigende Wiedergabe.

Als Zugabe wurde dann mit schelmischer Spielfreude der Libertango von Astor Piazzolla  gegeben.

Nach dem Konzert bekam Martin Grubinger in kleinem Rahmen den Musikfest-Preis 2023. (29. August 2023)

„Carmen & Maria“ war das Konzert der Bremer Philharmoniker überschrieben. Sylvia d’Eramo war beides – so wie auch Evan LeRoy Johnson ihre beiden Partner Don José und Tony verkörperte. Doch bevor die beiden Paare aus „Carmen“ und aus der „West Side Story“ zu Wort kamen, entführte Dirigent Marko Letonja die Zuhörer mit Alborado del gracioso  (Morgenständchen eines spanischen Hofnarren) von Maurice Ravel nach Spanien. Das Stück stammt aus Ravels Klavierzyklus „Miroirs“. 1918 hat er es orchestriert und damit eines seiner effektvollsten Orchesterstücke geschaffen. Das spanische Kolorit (auch durch den Einsatz von Kastagnetten) ist gut getroffen. Letonja und die Bremer Philharmoniker musizierten diese Impressionen mit hinreißendem Schwung und expressiver Dynamik.

Oper Il Travatore in der Glocke, © Hannes von der Fecht

Mit der Carmen-Suite Nr. 1 bleiben wir in Spanien. Sie wurde arrangiert von  Ernest Guiraud, der auch die Rezitative zu Bizets Dialogoper „Carmen“ komponierte. Sie enthält die Vor- und Zwischenspiele von „Carmen“, wenn auch nicht in chronologischer Reihenfolge. Vom einleitenden, bedrohlichen Schicksalsmotiv bis zur mitreißenden Auftrittsmusik des Toreadors (dem eigentlichen Vorspiel zum 1. Akt) servierten die Bremer Philharmoniker Bizets farbenreiche und stimmungsvolle Musik mit differenzierter und ausgewogener Klangkultur.

Beim Duett zwischen Carmen und Don José aus dem zweiten Akt begeisterten Sylvia d’Eramo und Evan LeRoy Johnson mit vorzüglichen Gesangsleistungen. Der schlanke, aber kraftvoll aufstrahlende Sopran von Sylvia d’Eramo harmonierte bestens mit dem ausgesprochen schön timbrierten Tenor von Evan LeRoy Johnson. Seine „Blumenarie“ gestaltete er mit Inbrunst, rundem Klangvolumen und am Ende mit schöner voix mixte. Den Schlusspunkt setzte d’Eramo mit der raffiniert und verführerisch gesungenen „Habanera“ aus dem 1. Akt.

Ortswechsel nach der Pause: Von Spanien nach Amerika, von der Oper zum Musical. Leonard Bernsteins West Side Story  ist ein ähnlicher Publikumsrenner wie Carmen. Bei den Ausschnitten daraus zeigten sich Sylvia d’Eramo und Evan LeRoy Johnson als Maria und Tony ebenfalls von ihrer besten Seite. „Maria“, „One Hand“, „Somewhere“ und „Tonight“ sind die Höhepunkte des Musicals, die hier mit glaubhafter Jugendlichkeit und stimmlicher Frische serviert wurden.

Bremer Philharmoniker, © Caspar Sessler

Zuvor entpuppten sich die Bremer Philharmoniker als veritables Jazz-Orchester. Die Site Harlem  von Duke Ellington ist eine Synthese aus Klassik und Jazz. Sie wurde von Arturo Toscanini für das NBC Symphony Orchestra in Auftrag gegeben, aber nie von ihm aufgeführt. Das gut 15minütige Stück ist wie der Sound einer Großstadt, in der viele Kulturen zusammenschmelzen. Mit ihren Trompeten-Glissandi, dem Einsatz der Soloklarinette, dem Schlagwerk und den häufigen Rhythmuswechseln stellt es hohe Anforderungen. Letonja und die Bremer Philharmoniker bewältigen sie bravourös, so als hätten sie nie andere Musik gespielt. Lässiger, großformatiger Swing vom Feinsten!

Als Zugabe gab es ein weiters Orchesterstück: Vallflickans Dans op. 37/4 von  Hugo Alfvén. Das war ein beschwingter Abschluss, wenn auch der plötzliche Sprung nach Skandinavien verwunderte.

Wolfgang Denker, 1. September 2023