Winterthur: „Gabriela Montero“ und das Musikkollegium Winterthur

Es mag ungewöhnlich erscheinen, aber diesmal beginne ich meine Würdigung des gestrigen Konzerts des Musikkollegiums Winterthur mit den Zugaben der Solistin Gabriela Montero.

Die begnadete Pianistin setzte sich nach dem begeisterten Applaus für ihre Darbietung von Tschaikowskys b-Moll Klavierkonzert nicht einfach an den Flügel und spielte eine Zugabe ohne Ansage, nein, Frau Montero griff zum Mikrofon, bedankte sich ganz herzlich beim Publikum, dem Orchester und dem Dirigenten und forderte das Publikum auf, ihr doch eine Melodie vorzugeben, zu der sie dann improvisieren werde. Selbstverständlich dauerte es bei der bekannten Schweizer Zurückhaltung etwas, bis jemand im Saal den Mut aufbrachte, eine Melodie zu intonieren. Aus einer der hintersten Reihen ertönte schließlich das Schweizer Heimatlied „Luegid von Bärge und Tal“.

Die venezolanische Ausnahmepianistin kannte sich verständlicherweise in der Schweizer Volksmusik nicht aus, konnte das Lied aber bereits nach dem einmaligen Anhören der Phrase aus dem Publikum perfekt nachspielen und entwickelte daraus eine fulminante Improvisation, so leicht im Stil eines üppig romantisierten Bachs, ein Klangrausch sondergleichen, in welchem immer wieder „Lugid vo Bärge“ aufschimmerte. Das Publikum war kaum mehr zu halten. Das war umwerfend gespielt mit einer Virtuosität sondergleichen und stets geschmackvoll. Als zweite Improvisation schlug dann jemand „Last Christmas“ von Wham vor: Frau Montero entwickelte aus der simplen, aus wenigen Tönen bestehenden Melodie einen mitreißenden Ragtime. Herrlich!!! Eine wahre „Wonder Woman“ auf dem Schlachtfeld der Tasten.

Nachtrag: Improvisationskunst vom Allerfeinsten präsentierte Gabrieal Montero gestern Freitag anlässlich eines Freikonzerts – seit 125 Jahren werden diese Gratiskonzerte in Winterthur dank Stiftungen und Schenkungen in Winterthur angeboten, einmalig! Sie begann mit einer fulminanten Interpretation von Bachs Chaconne in d-Moll, transkribiert von Ferruccio Busoni, dem legendären Pianisten und Komponisten. Durch Zurufe aus dem Publikum folgten eine Improvisation über “Fremd bin ich ausgezogen” aus Schuberts Winterreise, gefolgt von “I wish you a merry Christmas” und “Alle Vögel sind schon da – Morgen kommt der Weihnachtsmann” auf Anregung eines jugendlichen Besuchers, eine Melodie, die schon Mozart zu Variationen inspiriert hatte (Ah vous dirai-je maman). Dazwischen folgte eine freie Improvisation zu Gabriela Monteros Heimatland Venezuela, sehr tief empfundene Paraphrasen, emotional vorgetragen. Im Anschluss an den Konzertteil führte Dominik Deuber ein Interview mit der Künstlerin, das einen sehr persönlichen Eindruck über diese wunderbare Pianistin und Komponistin vermittelte, die Kostproben ihres Talents in dieser “Winterthurer-Woche” dem Publikum und Nachwuchpianisten (in einer Meisterklasse) schenkt.

Lebensfreude pur schlägt einem auch zu Beginn von Tschaikowskys erstem Klavierkonzert entgegen, diesem unverwüstlichen Schlachtross unter Tschaikowskys Werken. Bereits mit den wuchtigen aufsteigenden Akkorden des Klaviers zur majestätischen Streicherfigur des Beginns wurde man auf eine frohe, leicht pathetische Ebene getragen, lauschte im Verlauf des ersten Satzes der kunstvollen, manchmal auch vertrackten Verarbeitung des ukrainischen Themas, das bald einem Seitenthema von zärtlicher Lyrik wich. Das Musikkollegium Winterthur unter der wunderbar uneitlen Leitung von Thierry Fischer und die Solistin Gabriela Montero entwickelten einen spannungsgeladenen Dialog. Die Solistin spielte mit einer grandiosen rhythmischen Präzision, technisch herausragend in den rapiden Läufen, den Akkordkaskaden und in der elegischen Ausbreitung des Seitenthemas bestechend sicher und tiefgründig, effektgeladenen Steigerungen zu Recht nicht ausweichend. Mit wunderbaren, dynamisch fein abgestuften und virtuosen Passagen glänzte sie in der Kadenz. Sie suchte immer wieder den Kontakt zum Orchester im Zusammenspiel z.B. mit der Flöte, so dass ein wunderbarer Fluss den Satz durchströmte. Im pastoralen Charakter des zweiten Satzes schimmerten immer wieder wunderbare solistische Passagen von Musikern des Orchesters auf, oftmals untermalt von präzisen Pizzicati der Streicher. Wilde, chromatische Läufe des Klaviers unterbrachen kurz die Idylle, bevor der Satz wieder in Melancholie endete und schnell ins finale Rondo mündete, wo Solistin und Orchester in fulminantem, frohem Wechselspiel badeten und sich am Schluss zum Jubelfinale steigerten, einem Jubel, dem sich das Publikum gerne anschloss.

Brahms kämpfte lange mit der Großform der Sinfonie, hatte immensen Respekt vor Beethovens Schaffen in dieser Sparte. So kam es, dass er seine erste Sinfonie zwar schon lange im Kopf konzipiert hatte, sie jedoch erst im Alter von 54 Jahren der Öffentlichkeit präsentierte. Thierry Fischer und das Musikkollegium Winterthur intonierten den Kopfsatz mit erfüllter Wärme, ohne allzu viel Pathos zu verströmen, dafür das Ringen, den Kampf, die Zerklüftung hörbar zu machen. Fischer disponierte die Klangblöcke mit homogener Abstufung, ohne den großen Bogen zu vernachlässigen. Die unaufgeregte, sparsame Zeichengebung dieses Dirigenten ist bewundernswert. Er erreicht damit trotzdem ein Maximum an Ausdruckskraft, stellt sich ganz in den Dienst der Musik. Das Musikkollegium Winterthur spielte den zweiten Satz mit tröstlichem Wohllaut, aber nie zu süßlich. Oboe und Solovioline des Konzertmeisters verströmten eine friedvolle Naturstimmung voller Gesanglichkeit. Im dritten Satz wurde das Klopfen des Schicksals und dessen Kampf gegen die liebliche Grundstimmung des Satzes deutlich herausgearbeitet. Die heiklen Passagen der Hörner gelangen an dieser Stelle nicht immer nach Wunsch, im Finale allerdings glänzten auch die Hörner mit dem an Weber und Schubert angelegten Referenzthema. Auch das von Brahms zitierte Freudenthema aus Beethovens 9. Sinfonie erstrahlte in herrlichem Glanz und verdrängte alles streckenweise düster heraufdräuen Wollende. So endet die Sinfonie in bejahendem, feierlichem Ton und wiederum begeisterte das Musikkollegium Winterthur mit seinem tröstend warmen Gesamtklang.

(c) Kaspar Sannemann

Eingeleitet wurde das Konzert mit Nikolai Tscherepnins Prélude aus der Schauspielmusik zu LA PRINCESSE LOINTAINE. Ein zaghaftes Motiv des Cellos stimmte ein auf sanfte Wellen und übers Meer wehende Sirenengesänge, die Wellen steigerten sich zu Wogen, zeichneten die gefahrenvolle Reise des Ritters zur Prinzessin über die aufgewühlte See. Die wunderbar satten Streicherfiguren des Musikkollegiums Winterthur, sanft bereichert mit Holzbläsern und dezent eingesetztem Blech, evozierten ein plastisches Gemälde, einen wunderbar (spät-) romantischen Klangzauber, von dem man sich sehr gerne in eine leichte Trance versetzen ließ – und der neugierig machte auf andere Werke diese Komponisten.

Kaspar Sannemann, 26.November 2023


Winterthur
Stadthaus

Solistin Gabriela Montero

Nikolaj Tscherepnin: Prélude zu „La princesse lointaine“ op. 4
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-Moll, op. 23
Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 1 c-Moll, op. 68

Musikkollegium Winterthur