Pforzheim: „Hänsel und Gretel“, Engelbert Humperdinck

Zu einer preisverdächtigen Angelegenheit geriet die Aufführung von Humperdincks Hänsel und Gretel am Theater Pforzheim. Hier stimmte fast alles. Eine hervorragende Inszenierung, treffliche musikalische Leistungen und ein fast durchweg ansprechendes Sängerensemble sorgten dafür, dass der Abend wie im Flug verging. Regisseurin Dorothea Kirschbaum und ihre Ausstatterin Johanna Maria Burkhart haben fantastische Arbeit geleistet. Sie haben die Oper ausgesprochen geschickt modernisiert, das Ganze aber auch durchaus kindgerecht in Szene gesetzt, ohne dabei den märchenhaften Aspekt aus den Augen zu verlieren. Technisch kann man der äußerst fähigen Regisseurin nicht das Geringste anlasten. Sie hat das Werk ausgesprochen gut durchdacht und wartete mit vielen neuen und interessanten Aspekten sowie einer flüssigen, ausgeprägten Personenregie auf. Die Einbeziehung des Zuschauerraums in das Spiel belegte ihre Kenntnis der Theorien Bertolt Brechts. Gesteigert wurde die Spannung durch mannigfaltige Tschechow‘ sche Elemente. Öfters gönnt Frau Kirschbaum den Sängern an Stellen Auftritte, an denen Humperdinck solche für diese eigentlich gar nicht vorgesehen hatte. So erscheint die Hexe bereits im ersten Akt. Und die Eltern von Hänsel und Gretel sind bereits während des ausinszenierten Vorspiels, noch vor ihren Kindern, auf der Bühne zu sehen. Ferner erscheinen sie in der Pantomime am Ende des zweiten Aktes im Traum ihrer Kinder, machen es sich gleich diesen auf Bettkissen bequem und schlagen ein Buch zum Vorlesen auf.

(c) Sabine Haymann

Die ganz in moderne Kleider gewandete und etwas hippieartig anmutende Besenbinder-Familie ist ganz dem Heute verhaftet. Man liebt unter anderem Harry Potter und Jazz-Musik. Indes klopft auch hier bereits ganz am Anfang die Armut heftig an die Tür. Der Kühlschrank ist leer. Verzweifelt sitzt die Mutter Gertrud über Rechnungen, die sie nicht begleichen kann. Ihr Caféhaus wird sie wohl nicht halten können. Und mit der Musikerkarriere des Vaters Peter war es auch schon besser bestellt. Er kann gleichsam einpacken, als ein Gläubiger, der nicht gänzlich bezahlt werden kann, als Pfand den Kontrabass des Vaters mitgehen lässt. Kein Wunder, dass unter diesen Umständen die Nerven blank liegen und die Eltern schnell mal ausflippen. Man kann sich fragen, ob angesichts des ausgesprochen zeitgenössischen Charakters der Produktion die Corona-Krise die Familie in diese desolate Situation gebracht hat. Zum Abendessen bleibt nur noch der Krug Milch, den eine liebenswürdige Nachbarin vorbeibringt. Später deckt diese die eingeschlafene Gertrud liebevoll mit einer Decke zu und beobachtet Vater Peter bei seiner Heimkehr. Vor dem musikalischen Hexenritt fragt sie das Publikum nach seinem Befinden. Dass sich diese sympathische, gut bürgerlich gekleidete Frau später als die Hexe entpuppt, ist wahrlich der größte Überraschungseffekt der gelungenen Inszenierung.

(c) Sabine Haymann

Die Hexe ist in dieser Deutung nicht nur böse, sondern auch leicht komisch und etwas dümmlich. Hänsel und Gretel ahnen, dass es mit der Nachbarin etwas auf sich hat, was nicht so angenehm und vielleicht sogar gefährlich ist. Die Hexe hat sich in Dorothea Kirschbaums Interpretation nicht im Wald angesiedelt, der hier überhaupt keine Rolle spielt, sondern lebt mitten in der Stadt. Hier ist die Aussicht auf Beute einfach besser. Es gibt unter uns sehr viel mehr Magie als wir es uns vorstellen können, will die Regisseurin sagen. Die Hexe ist bei ihr Inhaberin eines hübsch anzusehenden Garten-Paradieses, in dem mehrere Angestellte beschäftigt sind. Mit diesem werden die Geschwister bereits im zweiten Akt konfrontiert. Zu dieser Zeit wirkt es noch nett und harmlos. Im dritten Akt dagegen, in dem das Knusperhäuschen, der Backofen und der Käfig in das Garten-Paradies integriert werden, nimmt dieses einen bedrohlichen Charakter an. Die Hexe hat ihre freundliche Maske nun abgelegt und dem Ambiente gekonnt eine andere Erscheinungsform verpasst. Man merkt, das Böse ist oft unter uns, auch wenn man es nicht bemerkt. Ein heiterer Einfall seitens der Regie war, dass die Hexe hier ein Buch mit dem Titel Rosinas Kinderbackstube geschrieben hat. Sie hat bereits viele Kinder in ihre Gewalt gebracht – nicht nur um sie zu essen, sondern auch, um sie für sich arbeiten zu lassen. Letzteres ist in erster Linie einigen weiß maskierten und gekleideten Teenager-Mädchen vorbehalten, die der Hexe naturgemäß nur widerwillig gehorchen und am Ende in gleicher Weise von Hänsel und Gretel erlöst werden wie die Lebkuchenkinder. Eines der wenigen konventionellen Elemente von Frau Kirschbaums Regiearbeit besteht darin, dass die Hexe am Ende ganz traditionell im Ofen landet. Das war alles sehr überzeugend, sehr kurzweilig und spannungsreich umgesetzt. Selten hat man eine so vortreffliche Inszenierung von Humperdincks Werk gesehen!

(c) Sabine Haymann

Die musikalische Seite des Abends vermochte ebenfalls für sich einzunehmen. Bei dem jungen Dirigenten Philipp Haag und der gut disponierten Badischen Philharmonie Pforzheim war Humperdincks Werk in besten Händen. Haag entpuppte sich als versierter Theaterdirigent, der das Orchester sicher durch die nicht gerade leichte Partitur leitete und mit vielen Feinheiten sowie einer reichhaltigen Farbpalette aufwartete. Sowohl volksliedhafte Unbekümmertheit und Leichtigkeit des Klangbildes kamen gleichermaßen zum Ausdruck wie die Wagnernähe der Musik, woraus ein sehr ansprechender, differenzierter Klangteppich resultierte.

Unter den Sängern des Theaters Pforzheim hatte an diesem Abend der Krankheitsteufel zugeschlagen. Das begann schon bei der Sängerin der Gretel. Für sie eingesprungen war Gastsängerin Mimi Doulton, die allerdings mit ihrem leichten, total in der Maske sitzenden und jeder soliden Körperstütze abholden Sopran nicht überzeugen konnte. Sie war der einzige Ausfall in einem sonst grandiosen Ensemble. Ganz kurzfristig erkrankt war auch die Sängerin des Sand- und Taumännchens. Freundlicherweise hatte sich die dem Chor angehörende Marie-Kristin Fichtner bereit erklärt, beide Rollen zu übernehmen. Da zu einem ausführlichen Studium der beiden Partien keine Zeit mehr war, sang Frau Fichtner diese aus dem verdeckt auf die Bühne mitgebrachten Klavierauszug. Das tat sie mit kraftvoller und ordentlich gestützter Tongebung. Sie wäre die bessere Gretel gewesen. Eine gute Leistung erbrachte Jina Choi, die sich mit profunder und tiefgründiger Mezzosopran-Stimme als ein idealer Hänsel erwies. Daniel Nicholson sang mit vorbildlich im Körper verankertem, hellem und geradlinig geführtem Bariton einen soliden Vater Peter. Stamatia Gerothanasi war eine angenehm singende Mutter Gertrud mit tadelloser Höhe. Die gesangliche Krone des Abends gebührte Philipp Werner, mit dem die Hexe ganz phantastisch besetzt war. Ihm zuzuhören war ein echter Hochgenuss. Die Bravorufe, mit denen er beim Schlussapplaus bedacht wurde, waren nur allzu berechtigt. Hier haben wir es mit einem bestens italienisch geschulten, strahlkräftigen und sehr kraftvollen Tenor zu tun, der seine Rolle nicht charaktermäßig auslotete, sondern dieser vielmehr einen ausgesprochen heldenhaften Anstrich zu verleihen wusste. Es wäre interessant, diesen hervorragenden Sänger einmal in einer Wagner-Partie zu erleben. Der Wechsel an ein größeres Haus und ins Heldenfach dürfte jedenfalls bei ihm angesichts seiner grandiosen Leistung nur noch eine Frage der Zeit sein. Bravo! Solide präsentierten sich der von Johannes Antoni einstudierte Chor und der Kinderchor.

Fazit: Ein insgesamt sehr gelungener Opernabend, der sowohl für Erwachsene als auch für Kinder gut geeignet ist. Der Besuch der Produktion ist sehr zu empfehlen. Wieder einmal hat sich das Theater Pforzheim bestens bewährt!

Ludwig Steinbach, 14. Januar 2024


Hänsel und Gretel
Engelbert Humperdinck

Theater Pforzheim

Premiere: 26. November 2022
Besuchte Aufführung: 13. Januar 2024

Inszenierung: Dorothea Kirschbaum
Musikalische Leitung: Philipp Haag
Badische Philharmonie Pforzheim