Wer mit der Straßenbahn vom sich mondän gebenden, wohlhabenden Regierungs-, Verwaltungs-, Kultur-, Party- und Modestandort Düsseldorf in das nördlich gelegene Duisburg fährt, gelangt in eine andere Welt. Es ist nicht zu übersehen, dass der industrielle Strukturwandel, der längst nicht abgeschlossen scheint, sich auf die städtische Haushaltskasse und das Durchschnittseinkommen der Einwohner durchschlägt. Immerhin gibt es ein paar besuchenswerte Museen und eine funktionierende Opernehe mit Düsseldorf. Und wie zum Trotz gegen das schlechte Standing im Städteranking warten die Duisburger Philharmoniker mit einem ambitionierten Programm auf. Mit Alondra de la Parra, die zweimal auftritt, Delyana Lazarova und Debora Waldmann wird in der laufenden Saison ein Drittel der Konzerte von Frauen dirigiert. Artist in Residence ist der venezolanische Trompetenvirtuose Pacho Flores, der seine Vielseitigkeit in verschiedenen Konzertformaten präsentiert. Entsprechend breit ist das aufgeführte Repertoire: Musik aus Lateinamerika und Werke von gleich sechs Komponistinnen sind auffällig vertreten. Austragungsort der Philharmonischen Konzerte ist die Mercatorhalle, ein großer und moderner Konzert- und Konferenzsaal mit guter Akustik und komfortabler Bestuhlung. Die Philharmonischen Konzerte werden an zwei Tagen gegeben, und am besuchten Mittwoch war der Saal gut gefüllt. Das Orchester vollzieht auch die Operndienste im Theater nebenan und dürfte daher den Opernfreund-Lesern bekannt sein.
Repräsentativ für die Ambitionen der Philharmoniker ist das sechste Abonnementskonzert unter dem Motto „Silenced Black Voices“. Nach Anton Webern werden mit Werken von Julia Perry, Joseph Bologne und Florence Price Werke von farbigen Tonschöpfern beiderlei Geschlechts zum Klingen gebracht. „Das Konzert möchte dazu beitragen, dieses zu lange verdrängte Repertoire endlich zu etablieren und People of Color einen sichtbaren Platz auf der Bühne zu geben“, heißt es in der Vorankündigung dazu. Für die musikalischen Gesamtleitung wurde der afro-amerikanische Dirigent Brandon Keith Brown verpflichtet. Erwurde bekannt, als er 2012 beim Internationalen Dirigentenwettbewerb „Sir Georg Solti“ den dritten Platz erreichte und den Publikumspreis gewann. Zu seinen Lehrern gehören Lorin Maazel, Kurt Masur und David Zinman. Er hat weltweite Engagements, engagiert sich aber auch für die Gleichstellung nicht-weißer Künstlerinnen und Künstler im Klassikbetrieb.
Weberns Langsamer Satz für Streichquartett in der Fassung für Streichorchester von Gerard Schwarz (trotz des Namens ein Weißer – das muss in diesem Kontext erwähnt werden) steht noch in der spätromantischen Tradition. Es beginnt mit einem fast Brahmsschen Thema, das zart entwickelt wird und sich schwelgerisch steigert. Die Duisburger Streicher treffen von Anbeginn an den richtigen Ton und bieten von zart bis üppig eine breite Palette an Dynamik und an Farben. So gespielt, hat der Satz das Zeug zu einem Romantik-Hit.
Das persönlichste und emotionalste Stück des Abends war wohl das Stabat Mater von Julia Perry (1924-1979). Perryist eine hierzulande noch unbekannte Komponistin. Sie studierte u.a. bei Luigi Dallapiccola in Tanglewood und Nadia Boulanger in Paris sowie an der Juilliard School. Zunächst orientierte sie sich an afro-amerikanischer Musik. Später erweiterte sie ihre Kompositionstechnik und experimentierte mit Dissonanzen.Das etwa 20-minütigeStabat Mater (1951) ist eines ihrer bemerkenswertesten Werke und für Solo-Alt und Streichorchester komponiert. Es enthält Dissonanzen, bleibt aber innerhalb der Klassifizierung der tonalen Musik, und beinhaltet modernere Kompositionstechniken, wie z. B. Quartalharmonie, bei der Akkorde in Quarten statt in Terzen und Quinten gestimmt werden (Wikipedia). Formal werden unter anderem traditionelle europäische Muster wie Fugen und Choräle mit Spirituals verbunden. Für den Hörer schlägt sich das in einer expressiven Tonsprache nieder. In ihr drückt sich das schmerzhafte, existentialistische Bekenntnis eines aufgrund seines Geschlechts und seiner Hautfarbe missachteten Menschen aus. Die junge Altistin Taylor Raven gestaltete ihren Parthörbar involviert, denn ihre warme, füllige Stimme war in allen Lagen sicher und dynamisch breit aufgestellt. Nur leider war sie kaum zu verstehen, was für einen Nicht-Katholiken trotz großem Latinum den letzten Zugang zu diesem Werk verwehrte. Im dunklen Saal half der im Programmheft abgedruckte Text leider auch nicht. Dennoch erlebte man ein Juwel dieser Gattung und es ist zu hoffen, dass von dieser Komponistin bald mehr zu hören ist. Tief bewegt ging man in die Pause.
Der Geiger Romuald Grimbert-Barré kommt wie Joseph Bologne(1745-1799) aus Guadeloupe, bietet sich also als idealer Interpret dessen Violinkonzerts in G-Dur op. 8 Nr. 2 an. Der kam als Sohn einer Sklavin und eines französischen Adeligen auf die Welt. Schon früh gelangte er nach Paris, wo er nicht nur standesgemäßen Fechtunterricht erhielt, sondern auch musikalisch gefördert wurde, in verschiedenen Gattungen komponierte und als Violinvirtuose brillierte. Seine Oper „L’amant anonyme“ (1780, deutscher Titel: Der anonyme Liebhaber) stand im vergangenen Jahr auf dem Spielplan der Essener Oper (https://deropernfreund.de/essen-aalto-theater/essen-lamant-anonyme-joseph-bologne/). Sein Kompositionsstil ist vorrevolutionär rokokohaft; die Haydn-Brüder oder die Mannheimer Schule können als Vorbilder gelten. Das gehörte Violinkonzert ist klar strukturiert und von gesanglichen Melodien geprägt, was im schwungvollen Allegro deutlich wird. Im Largo unterbrechen zum Glück einige Cello- und Bass-Akzente das Dahinplätschern, andererseits kippt es auch melancholisch nach Moll. Das kurze Finale hat tänzerische Elemente. Somit ist es ein unterhaltsames Rokoko-Werk. 19 im Stehen spielende Streicher breiten stilsicher einen luftig-leichten Klangteppich aus, der perfekt mit dem eleganten und gesanglichen Spiel des Solisten harmoniert.
Anschließend nahm das vollbesetzte Orchester auf der Bühne Platz, um die halbstündige dritte Sinfonie von Florence Price (1887-1953) zu spielen. Uraufgeführt wurde sie 1940, und das ist ihr Problem, denn sie scheint aus der Zeit gefallen zu sein. Charles Ives war 30 Jahre früher schon weiter. Sie steht in c-moll, bleibt auch tonal und erinnert in der Verarbeitung ihrer prägnanten Themen oft an Dvoraks späte Sinfonien. Andererseits stützt sie sich thematisch und harmonisch, zum Teil auch formal, auf afroamerikanische Musiktraditionen, was das Besondere dieser Sinfonie ausmacht und der besondere Verdienst von Price ist. Zunächst scheint man aber mit wuchtigen Klängen des Blechs in eine Götterdämmerungswelt entführt zu werden, um dann im Allegro spiritualhafte Themen in dramatischen Steigerungen und ruhigen Abschnitten in schnellen Wechseln entwickelt zu hören. Der zweite Satz erinnert an einen idyllischen Open-Air-Gottesdienst, denn auch hier kommt spiritualartiges Material zum Einsatz. Ein besonderer Effekt ist eine brucknerhafte Steigerung hin zu einem Blechbläserchoral, der dann aber mit afroamerikanischen Harmonien endet. Anstelle eines Scherzos folgt ein fünfteiliger Juba, ein schneller und sehr rhythmischer Tanz afrikanischer Sklaven. Mit der Einführung dieser Gattung in eine klassische Sinfonie betritt Price Neuland. Das Finale hat Price mit Scherzo überschrieben. Es nimmt den Schwung des Juba auf und steigert sich dann bis zur Drastik eines Mahler-Scherzos. Insgesamt war eine unverwechselbare, musikalisch reiche und effektvolle Sinfonie zu hören, die trotz der oben genannten Einschränkungen, die aus der zeitlichen Distanz betrachtet immer weniger bedeutend sind, eine Bereicherung der klassischen Musiksprache und des Repertoires ist. Das Orchester kam bestens mit den Herausforderungen dieses Werkes und der zuvor gespielten klar, was nicht zuletzt ein Verdienst des Dirigenten war, der mit präziser und uneitler Zeichensprache die Abläufe steuerte. Zu sagen, er habe diese Musik im Blut, ist aber zu klischeehaft.
„In der klassischen Musik geht es im Kern darum, einen weißen, westlichen Kanon zu bewahren“, sagt Brandon Keith Brown. Es sei Zeit, diese Welt zu öffnen und durchlässiger zu machen. Die Duisburger Philharmoniker tragen nicht unwesentlich und erfolgreich dazu bei. Das Konzert wurde auf Video aufgezeichnet und dürfte bald in der Mediathek der Philharmoniker nachzuvollziehen sein.
Bernhard Stoelzel, 24. Januar 2025
Anton Webern, Langsamer Satz für Streichquartett
Julia Perry, Stabat Mater
Joseph Bologne, Violinkonzert in G-Dur op. 8 Nr. 2
Florence Price, Dritte Sinfonie
6. Philharmonisches Konzert
Duisburg, Mercatorhalle
22. Januar 2025
Musikalische Leitung: Brandon Keith Brown
Alt: Taylor Raven
Violine: Romuald Grimbert-Barr
Duisburger Philharmoniker