Bergamo: „Festival Donizetti“

„CHIARA E SERAFINA“ Dieses Werk wurde im Oktober 1822 an der Mailänder Scala uraufgeführt. Es war kein Flop, aber auch kein echter Erfolg, wurde es doch nach zehn Reprisen abgesetzt. Für den damals 25-jährigen Komponisten war Mailand natürlich eine wichtige Stufe auf der Karriereleiter, und der relative Misserfolg führte dazu, dass Donizetti erst 1833 mit „Lucrezia Borgia“ an die Scala zurückkehrte (seine „Anna Bolena“ wurde 1830 im Mailänder Teatro Carcano, das der Scala erfolgreich Konkurrenz machte, uraufgeführt und bestätigte Donizettis endgültigen Durchbruch).

Warum hatte also „Chiara e Serafina“ (dessen Untertitel „Il pirata“ lautete) keinen durchschlagenden Erfolg? Es handelte sich um die erste Zusammenarbeit mit dem bedeutenden Textdichter Felice Romani, der den 2. Akt erst ein paar Tage vor Probenbeginn lieferte. Donizetti ist als Schnellschreiber bekannt und war mit seiner Komposition rechtzeitig fertig, doch gab es durch die Verzögerung nur wenige Probentage. Die größte Schwierigkeit kam aber vom Libretto selbst. Romani war bei Versen ein begnadeter Poet, aber sein Gefühl für Dramaturgie ließ zu wünschen übrig. Das Stück beruhte ursprünglich auf einem mélodrame von René-Charles Guilbert de Pixérécourt mit dem Titel La citerne, das mit einer durch ständige unerwartete Wendungen spannend gemachten Handlung großen Erfolg beim Pariser Publikum hatte. Für den Aufbau einer Oper war sie wenig geeignet, denn es brauchte nicht nur eine große Menge an Mitwirkenden, sondern vor allem ständigen Szenenwechsel, was auf jeden Fall mehr Proben verlangt hätte.

(c) Gianfranco Rota

Vereinfacht erzählt geht es in der Handlung um Don Alvaro, der auf der Flucht vor seinen Feinden zusammen mit seiner älteren Tochter Chiara unschuldig in die Hände von Piraten geriet, die ihn zehn Jahre auf einer Insel festhielten. Nun ist ihm die Flucht gelungen, und ein Sturm lässt ihn am Strand von Mallorca landen. Daraus ergeben sich sämtliche Probleme, Don Fernando hat ein Auge auf Don Alvaros jüngere Tochter Serafina, deren Vormund er ist, geworfen, während das Mädchen in Don Ramiro verliebt ist. Da es sich um ein „melodramma semiserio“ handelt, gibt es die Figur des ältlichen Don Meschino, der in eine Lisetta verliebt ist, die nichts von ihm hören will. Auch die Piraten kommen nun auf die Insel; ihr Anführer Picaro wechselt nach vielem Hin und Her die Seiten, findet die Dokumente, die Don Alvaro entlasten, und einem Happyend steht nichts mehr im Wege.

Donizettis Musik ist natürlich noch stark von Rossini beeinflusst, dessen Crescendi er meisterhaft kopiert. Dennoch gibt es in den sanften, elegischen Stellen schon so manchen melodischen Einfall, der auf die spätere Entwicklung des Komponisten verweist.

Regie und Ausstattung lagen in den Händen von Gianluca Falaschi, der versuchte, mit einem grundsätzlichen Einheitsbühnenbild die vielen Szenenwechsel zu vermeiden und diese nur mit ein paar Ersatzstücken anzudeuten. Allerdings entstand ein heilloser Wirrwarr, weil man als Zuschauer nie wusste, ob die Interpreten in ihren hübschen Kostümen nun in den verwinkelten Gängen eines Schlosses, in einer geheimen Zisterne oder auf einem Schiff waren. Manchmal traten auch revuemäßig gekleidete Mädchen auf, deren Anwesenheit sich nicht erschloss.

(c) Gianfranco Rota

Musikalisch durfte man zufrieden sein, denn Sesto Quatrini dirigierte lebhaft und aufmerksam das Orchestra Gli Originali, und den jungen Sängern aus der Accademia della Scala ein teilweise recht gutes Zeugnis ausgestellt werden (auch der von Salvo Sgrò einstudierte Chor kam von der Accademia). Angeführt wurden sie von ihrem Tutor Pietro Spagnoli, der den Don Meschino (meschino bedeutet u.a. beschränkt) ohne Übertreibungen unterhaltsam und mit angenehmem Bariton verkörperte. Picaro, die eigentliche männliche Hauptrolle, sang Sung-Hwan Damien Park, dessen Bariton es etwas a Tiefe mangelte. Er machte fleißig alles, was die Regie von ihm verlangte, aber sein Schwung kam merklich nicht aus eigenem Antrieb. Die Serafina der Sopranistin Nicole Wacker klang manchmal etwas schrill, bot im Ganzen aber eine gute Leistung. Die beste Stimme des Abends war für mich Valentina Pluzhnikova als Lisetta, denn die Ukrainerin brillierte mit warmen Mezzotönen. Sehr gut hielt sich auch Aleksandrina Mihailova als Chiara; dieser Figur gehört das Schlussrondo, und die Sängerin wusste ihre Chance zu nützen. Zudem sah sie in ihrer Verkleidung als Mann fesch aus. Der Tenor von Hyon-Seo Davide Park, der den Don Ramiro sang, wird seinen Besitzer vermutlich als Comprimario Karriere machen lassen. Es ergänzten der solide Mezzo von Mara Gaudenzi (Agnese, Lisettas Mutter) und der Tenor Andrea Tanzillo (Pirat Spalatro) und der Bariton Giuseppe De Luca (Pirat Gennaro); von Letzterem finde ich es mutig, dass er angesichts der Namensgleichheit mit einem der größten historischen Baritone nichtan einen Künstlernamen gedacht hat.

Das stark international durchsetzte Publikum bedankte sich herzlich bei den jungen Leuten für deren Leistung.

„L’AIO NELL’IMBARAZZO“ Dieser Titel, den man mitDer Hauslehrer in Nöten übersetzen könnte, hat ein vielfältiges Schicksal hinter sich. Er beruht auf einem Erfolgsstück des italienischen Autors mit französischen Wurzeln Giovanni Giraud, dessen Inhalt (ein überängstlicher Vatersperrt seine Söhne von 25 und 19 Jahren zuhause ein, weil er befürchtet, der Kontakt mit dem weiblichen Geschlecht könnte sie „verderben“) sich großer Popularität erfreute und vor Donizetti schon an die sechs Mal vertont worden war. Nach der erfolgreichen Uraufführung 1824 in Rom bearbeitete der Komponist sein Werk für Neapel, wo man Titel liebte, in denen der Dialekt der Stadt zum Einsatz kam. 1826 gab es also keine Rezitative, sondern gesprochene Dialoge, Donizetti schrieb auch einige neue Arien, und nun hieß die Oper nach dem Namen des Hauslehrers „Don Gregorio“. Musikalisch verschmolzen die beiden Werke ineinander, und es steht dem Festival gut an, die Musikologin Maria Chiara Bertieri beauftragt zu haben, damit nach langwierigen Untersuchungen und Einsichtnahmen der ursprüngliche Zustand von 1824 in Rom wiederhergestellt werden konnte. So konnte sich das Publikum eine Vorstellung machen, was damals zu hören war, auch wenn dafür einige der später entstandenen Musikstücke geopfert werden mussten.

(c) Gianfranco Rota

Der Hörer merkt die Fortschritte, die Donizetti in den zwei Jahren seit der Uraufführung des oben besprochenen Stücks gemacht hatte. Rossinis Einfluss besteht zwar immer noch, aber die einzelnen Figuren sind musikalisch meisterlich charakterisiert, und man könnte im Fall des gleichen Stimmfachs mit geschlossenen Augen erraten, wer gerade singt.

Francesco Micheli, der künstlerische Leiter des Festivals, hatte die Regie übernommen (Bühnenbild: Mauro Tinti, Kostüme: Giada Masi). Während der Ouverture erzählt uns der Regisseur mit Hilfe von Projektionen vom Marquis Giulio Antiquati (nomen est omen), einem Politiker, dem eine Scheidung in der Öffentlichkeit stark zugesetzt hatte (im Libretto ist er Witwer), um dann mit Hilfe vom in den sozialen Medien umtriebigen „Greg“ wieder in bedeutende Positionen aufzusteigen. Im Laufe der Handlung sollten wir immer wieder Antiquatis Trauma nacherleben, wenn seine Frau mit einem Feschak durchgeht. Damit ist also der Grund gegeben, warum er seine Söhne immer beaufsichtigt lässt, selbst noch im Jahr 2042, in das die Handlung verlegt wurde. Damit wird alles aufgeboten, was es im Zeitalter der Elektronik gibt, um sich zwar ohne Schwierigkeiten miteinander in Verbindung zu setzen, aber in der Distanz, ohne physische Anwesenheit. So tragen die Sänger eine Art Technobrillen (die sie übrigens ziemlich verunstalten) und schirmen die Gesichter mit Plastikschirmen ab, wie sie teilweise bei Covid in Einsatz kamen, es wimmelt von Kabeln und Ähnlichem. Ich habe die Oper vor Jahrzehnten, ebenfalls in Bergamo, gesehen und erinnere mich, wie gut ich mich unterhalten habe. Das kann ich diesmal nicht behaupten, zu dystopisch erschien mir die Handlung. Ich muss allerdings hinzufügen, dass ich auch positive Reaktionen beobachten konnte, mein Kommentar also vielleicht doch auf eine Geschmackssache hinausläuft.

(c) Gianfranco Rota

Auch in dieser Produktion kamen junge Leute zum Einsatz, die eine intensive Studienzeit, die sogenannte Bottega Donizetti, mit Alex Esposito, dem titelgebenden Hauslehrer Gregorio, verbracht hatten. Esposito besitzt ein bühnenbeherrschendes Charisma, das zusammen mit seinem technisch versierten Bassbariton der Figur komische wie herzerwärmende Züge verlieh (schließlich heißt Gregorio mit Zunamen Cordebono, also Gutherz, und er macht dem alle Ehre, wenn er einen Säugling heimlich von einem Haus in ein anderen transportieren muss). Das kleine Kind wird sehnlichst von seiner Mutter Gilda und seinem Vater Enrico erwartet, weil es gestillt werden muss, denn natürlich war es Enrico gelungen, nächtens der Überwachung durch seinen Vater zu entgehen und sich heimlich zu verheiraten. Die Angst vor dem Vater hatte bisher verhindert, diesem die Wahrheit zu gestehen. Als Marchese Antiquati beherrschte Alessandro Corbelli, obwohl als indisponiert angekündigt, die Szene. Abgesehen von der perfekten Technik, die Corbelli auch in diesem Fall von Erkrankung nicht im Stich ließ, war seine gesamte Interpretation faszinierend, denn trotz seiner überalterten Ansichten war dieser besorgte Vater doch eine sympathische Figur. Als sein heimlich verheirateter Sohn Enrico ließ Francesco Lucil einen hellen, gut für Belcantokomödien wie diese geeigneten Tenor hören. Seine heimliche Gattin Gilda Tallemani wird auch musikalisch als sehr durchsetzungsfreudige Person charakterisiert, was Marilena Ruta mit ihrem technisch gut sitzenden Sopran brillant zum Ausdruck brachte. Szenisch überzeugend war der Spieltenor Lorenzo Martelli in der Rolle des noch kurze Hosen tragenden jüngeren Sohnes Pippetto, der in das Dienstmädchen Leonarda verknallt ist. Dieses, im Text mehrmals als ältlich benannt, wurde vom Regisseur in der Gestalt des verlässlichen Mezzos Caterina Dellaere durchaus jung gezeigt.Als aufmüpfiger Diener Simone gefiel der Bariton Lorenzo Liberali. Als blitzartig herangewachsener Säugling Bernardino bekam auch der kleine Vittorio Giuseppe Degiacomi seinen Beifall, ebenso der von Claudio Fenoglio einstudierte, nicht sonderlich geforderte Coro Donizetti Opera. Eine Talentprobe zeigte der junge Nachwuchsdirigent Vincenzo Milletarì am Pult des Orchestra Donizetti Opera.

Der Beifall fiel für die jungen Leute sehr herzlich aus, steigerte sich für Corbelli und wandelte sich für Esposito in Ovationen.

„LA FAVORITE“ Der bedeutendste und reifste Titel des diesjährigen Festivals war die im originalen Französisch erfolgte Wiedergabe eines Werks, das fast überall auf der Welt praktisch nur in der italienischen Übersetzung bekannt ist. Besagte Fassung ist natürlich musikalisch schön, aber hinsichtlich der Dramaturgie vollkommen unübersichtlich, wobei die Figuren stark verzeichnet werden. Die Malaise hat einen Grund: Das 1840 in Paris uraufgeführte Werk wurde für eine italienische Produktion ins Italienische übersetzt, doch musste der Verleger Lucca Interventionen des Vatikans fürchten , der auf der Bühne nichts von einem Abgesandten des Papstes, einem ehebrecherischen Paar bzw. einer Scheidung wissen wollte. Auch Fernand als dem Kloster den Rücken kehrender Novize musste Änderungen erfahren, und in ihrer Verzweiflung machten die Übersetzer den Pater Balthazar zum Vater Fernands, der plötzlich ein Bruder der von König Alphonse gemobbten Königin war. In dieser absurden Bearbeitung eroberte das Werk die Opernwelt, und ich stimme einem Beitrag im Programmheft zu, der, der mit „Spielt La Favorita nicht“ übertitelt ist.

(c) Gianfranco Rota

Es handelt sich nämlich nicht nur um das absurd gewordene Libretto, sondern auch um Donizettis Stil, denn der Meister hatte die Form der französischen Oper in einer Form verinnerlicht wie es etwa Verdi bei seinen „Vêpres siciliennes“ noch nicht gelungen ist. Auf den Spuren von Meyerbeer und Halévy hat der Komponist eine grand-opéra geschrieben, und das bezieht sich nicht auf die Hinzufügung des obligaten Balletts, sondern auf die Vertonung und Akzentgebung von Alexandrinern, wodurch die Oper eine genuin französische wurde. Dass die Geschichte der Léonor und ihres royalen Geliebten ohne die umständlichen Verfremdungen der italienischen Fassung erzählt wird, ergibt außerdem eine nicht nur spannende, sondern auch logische Erzählung.

Der Regie hatte sich die Argentinierin Valentina Carrasco angenommen, der es gelang, die Handlung aus weiblicher Sicht zu erzählen, sodass Alphonse als der verliebte Monarch gezeigt wird, der für Léonors Scham wegen ihrer Position kein Verständnis hat und nach ihrem Geständnis, sie liebe Fernand, subtile Rache nimmt. Aber auch Fernand rückt von der Figur des armen Belogenen stärker in die eines in seiner „Ehre“ Verletzten, dem Léonor schlagartig zum Monster wird. Geradezu genial ist der Einfall der Regisseurin, das sonst als störend, weil die Handlung retardierend empfundene Ballett von Bergamasker Bürgerinnen interpretieren zu lassen. Es handelt sich natürlich nicht um ein klassisches Ballett, sondern die Damen verkörpern die früheren, jetzt abgelegten Geliebten des Königs. Unglaublich, wie berührend diese Szene in der Choreographie von Massimiliano Volpini wirkt! Unterstützt wurde die Regie auch von einem Bühnenbild, das gleichfalls als genial zu bezeichnen ist, denn Carles Berga und Peter van Praet schufen eine Bühne, auf der zur Erfrischung von Léonors Damen aufgestellte Zelte sich ebenso in Stockbetten der Ex-Geliebten verwandeln wie in eine als typisch empfundene Palmenlandschaft des Alcázar oder mit Hilfe von ein paar Stäben in den Käfig, in dem sich Léonor gefangen fühlt. Die Kostüme von Silvia Aymonino entsprachen in ihrer Einfachheit der Sicht der Regisseurin.

(c) Gianfranco Rota

Doch wenn endlich einmal eine Regie ohne Einschränkungen gelobt werden darf, so war auch die musikalische Umsetzung auf höchstem Niveau. Riccardo Frizza, der Musikdirektor des Festivals, setzte mit dem Orchestra Donizetti Opera ganz auf den Stil einer grand-opéra und gewann die durch einen „französischen“ Donizetti bestehende Herausforderung (da wird ein kleiner Hornschmiss nicht zum Problem). Sehr gut auch der Chor Donizetti Opera, verstärkt durch die Choristen der Accademia Teatro alla Scala, einstudiert von Salvo Sgrò. In der Titelrolle brillierte  Annalisa Stroppa, die ihrem relativ hellen Mezzo ohne künstliches Abdunkeln die dunklen Farben der Erotik wie der Verzweiflung verlieh. Schauspielerisch ist Stroppa ohnehin immer ein Erlebnis, schlüpft sie doch perfekt in ihre Rollen. Groß in Form war auch Javier Camarena, der den Fernand nicht nur mit unermüdlichem Höhenglanz und furchtlosen sovracuti sang, sondern auch der Figur die von der Regie intendierte Dimension verlieh. Der Applaus für ihn war bei jeder seiner Arien wirklich nichtendenwollend. Als Alphonse XI. wandelte Florian Sempey für mich auf den Spuren des jungen Tézier und sang seine im Vergleich zur bekannten Fassung um eine Cabaletta erweiterte Rolle mit samtiger Stimme und dem Auftreten eines Gehorsam gewohnten Königs, der auch seine verletzliche Seite zeigte. Evgeny Stavinsky war ein majestätischer, von seiner Aufgabe erfüllter Balthazar mit kernigem Bass. Die hier leicht aufgewertete Rolle der Inès wurde von Caterina Di Tonno couragiert gesungen, während der intrigante Don Gaspar bei Edoardo Milletti gut aufgehoben war.

Eine in jeder Hinsicht hinreißende Produktion, die dem Aufruf  „Spielt La Favorita nicht“ Zustimmung bringen wird.                                                                                     

Eva Pleus 17. Dezember 2022


„Chiara e Serafina“

Teatro Sociale 4. Dezember 2022

Regie und Ausstattung: Gianluca Falaschi

Dirigat: Sesto Quatrini

Orchestra Gli Originali

„L’aio Nell’Imbarazzo“

Teatro Donizetti 2. Dezember 2022

Dirigat: Vincenzo Milletarì

Orchestra Donizetti Opera

„La Favorite“

Teatro Donizetti 27. Dezember 2022

Dirigat: Riccardo Frizza

Orchestra Donizetti Opera