Graz: „Der fliegende Holländer“

Kuriose Regie-Ideen

„Seit der ersten Aufführung eines Werkes Richard Wagners in Österreich im damaligen Opernhaus (Tannhäuser, 20. Januar 1854) darf Graz als Wagner-Stadt gelten. Seit Wagners Todesjahr 1883 besteht in Graz einer der weltweit ältesten Wagner-Vereine.“ Das schreibt das wagner.forum.graz , das vor rund 30 Jahren die Nachfolge des ursprünglichen Wagner-Vereins angetreten hat und seither sehr verdienstvolle Kulturarbeit leistet.

Seit 2015/16 leitet Nora Schmid die Oper Graz – ab der Spielzeit 2024/25 wird sie als Intendantin an die Semperoper Dresden zurückkehren, wo sie davor bereits als Chefdramaturgin tätig war. In Schmids Intendanz gab es in der „Wagner-Stadt Graz“ bisher nur einmal Wagner: im September 2016 einen vielbeachteten Tristan. Nun folgte der Holländer, dessen Premiere corona-bedingt in diese Saison verschoben musste.

Die letzte Premiere des Holländers in Graz liegt bereits 15 Jahre zurück. Damals zeigte Peter Konwitschny – übrigens seit 1999 Ehrenmitglied des oben erwähnten wagner.forum.graz – seine davor in Moskau und München entwickelte Version. Wer sich dafür interessiert, dem sei die Lektüre der Analyse durch den ausgewiesenen Wagner-Kenner Klaus Billand sehr empfohlen.

Damit schließt sich ein Kreis, ist doch Peter Konwitschny einer jener Lehrer, bei denen die heutige Regisseurin Sandra Leupold studiert hatte!

Sandra Leupold – in gewohnter Zusammenarbeit mit der Bühnenbildnerin Mechthild Feuerstein und dem Kostümbildner Jochen Hochfeld – stellt uns eine eigenwillige Interpretation in einem leeren schwarzen, mit Lichtröhren abgegrenzten Bühnenraum vor, ganz entsprechend dem Opernwelt-Zitat auf der Homepage der Regisseurin: Am liebsten ist Sandra Leupold der leere Raum. Gehäuse, in denen Darsteller, die Musik frei atmen können…. Ihr Ideal ist eine Art szenische arte povera, die, aus Partitur und Libretto entwickelt, um die Individualität der Figuren und ihrer Darsteller kreist.“

Allerdings entwickelte sie diesmal leider überhaupt nicht die Individualität der Figuren, sondern führt stattdessen den 27-jährigen Richard Wagner als Bühnenfigur ein, der wie ein Marionettenspieler die Figuren führt und der sichtlich nur um die Selbstverwirklichung seines eigenen Ichs bemüht ist. In einem am Premierentag veröffentlichten Rundfunkbeitrag ist u.a. zu lesen:„Was wir hier zu bieten haben, ist eine unglaubliche Werktreue. Wir haben historische Kostüme, und wir zitieren das Originalbühnenbild der Fassung, die wir spielen“, so Regisseurin Sandra Leupold. „Wenn wir zeigen, dass Richard Wagner Figuren nimmt, die er nicht selbst erfunden hat, sondern die er von Heinrich Heine übernommen hat, dass er diese Figuren anfüllt mit seiner Ideologie. Das ist es, was die Inszenierung vermitteln will.“

Das ist ein sehr intellektuell erdachtes Konzept – leider ohne Bühnenwirksamkeit, sondern nur ein kunstvoll ausgedachter Bilderbogen, noch dazu mit so mancher Banalität. Hier einige Beispiele: Daland muss als Zeichen seiner Gier ständig die ihm vom Holländer übergebenen Schmuckkiste herumtragen, die Chor-Damen müssen während Sentas Ballade geradezu störend dazwischen lachen, Eriks Traumerzählung wird durch hektisches Falten des Holländerbildes beeinträchtigt, Senta wird nie zu einem glaubwürdigen jungen Menschen, sondern nur zu einer übertriebenen Hysterikerin, Senta und Holländer kennzeichnen einander gegenseitig besitzergreifend und besprühen sich mit Spraydosen, Wagner nähert sich im Tanz zu den Seemannschören peinlich Senta und die Erlösung findet am Ende nicht statt. Senta flüchte von der Bühne in den Zuschauerraum. Dazu liest man im oben erwähnten Rundfunkbeitrag: Die Zuseher dürfen dann auch den Ausstieg einer Figur aus der ihr zugedachten Rolle miterleben. „Wenn diese Figur aus diesem Geschehen aussteigt, weil sie es schockierend findet, dass ein Autor private Obsessionen und Interessen verfolgt, dann sind wir in unserem Abend und unserer Inszenierung“, so Leupold.

Gott sei Dank kann über die musikalische Seite großteils sehr Erfreuliches berichtet werden. Voran gestellt sei, dass es für alle Solisten Rollendebüts waren. Gehen wir sie in der Reihenfolge ihres Auftretens durch:

Wilfried Zelinka ist ein idealer Daland, der die Rolle wunderbar lyrisch-kantabel und mit idealer Textartikulation gestaltet. Er behauptet sich auch gut im Duett mit dem Holländer. Schade, dass diemal seine oft bewiesene Darstellungskraft nicht zur Geltung kommen konnte. Sein Steuermann war Mario Lerchenberger, der sich – ursprünglich aus dem Opernstudio kommend – ungeheuer erfreulich weiterentwickelt hat. Er gestaltete die Partie großartig – die Bravo-Rufe für ihn bei den Schlussvorhängen waren zahlreich und hochverdient. Der Amerikaner Kyle Albertson als Titelfigur besitzt eine viril-dunkle Bassbaritonstimme mit absolut sicherer Höhe und deutlicher Artikulation, die allerdings primär auf Stimmsitz und-klang und nicht auf Textinterpretation ausgerichtet ist – jedenfalls bot er eine respektable Gesamtleistung. Interessenten können sich hier einen akustischen Eindruck vom großen Monolog machen, wenn auch nur mit Klavierbegleitung. Mareike Jankowski als Mary war wie gewohnt solid, wenn auch ohne eigenständiges stimmliches und darstellerisches Profil.

Als Senta hatte man die international erfahrene finnische Sopranistin Helena Juntunen gewonnen, die vor rund 20 Jahren ihre Karriere mit der Marguerite aus Gounods Faust, mit Rossini und mit der Zdenka begonnen hatte und die auf ihrem weiteren Weg besonders mit der Pamina verbunden war. Inzwischen sang sie bereits die Salome (Strasbourg), aber auch die Katja Kabanowa (Nancy) und die Marietta in der Toten Stadt (Basel). Nun wendet sich die heute 46-Jährige offensichtlich endgültig dem dramatischerem Fach zu – nach der Senta steht im Sommer gar die Aida bevor. Man muss es nach dieser Premiere klar sagen. Diesmal ist der Schritt nicht gelungen. Ihr Sopran ist für die Senta in einem Haus mit einem Fassungsraum von rund 1200 Plätzen einfach zu schmal oder um es unfreundlich zu sagen: zu klein. Sie verstand es auch nicht, im großen Duett mit dem Holländer die geforderten lyrisch-breiten Bögen zu spannen oder am Ende die nötige dramatische Durchschlagskraft aufzubringen. Juntunen war an diesem Abend mit der Partie schlichweg überfordert. Das Publikum reagierte am Ende sehr reserviert, ja es gab sogar einzelne Buh-Rufe – ein wahrlich seltener Fall für eine Gesangsleistung in Graz!

Die Partie des Erik war hingegen bei Maximilian Schmitt bestens aufgehoben. Über ihn schrieb ich vor drei Jahren bei seinem Debut in Humperdincks Königskinder: „Hier lernte man einen absolut sicher geführten Tenor kennen, der hörbar und erfolgreich auf dem Weg vom Lied- und Oratoriensänger zum deutschen romantischen Opernfach ist“ Auf seiner damals angekündigten ersten CD gab es auch schon Wagner, allerdings den Steuermann. Nun also der Erik: Schmitt überzeugte uneingeschränkt mit sehr klarer Artikulation. Er und bot stimmlich eine absolut rollengemäße Leistung.

Wie in Graz seit langem gewohnt: Chor und Extrachor der Oper Graz (Leitung Bernhard Schneider) sangen mit dem gebotenen Volumen, der nötigen Präzision und klangschön die umfangreichen Chorpassagen.

Die Grazer Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Roland Kluttig haben derzeit einen besonders intensiven Terminkalender Die Holländer-Premiere war eingebettet zwischen den beiden letzten Aufführungen des großartigen Haas-Stückes Morgen und Abend (bei Interesse siehe die Besprechungen unten). Man merkt, wie gut der Chefdirigent und sein Orchester aufeinander eingestellt sind. Das Orchester schien mir diesmal besonders gut disponiert. Man stürzte sich mit Impetus in die Ouvertüre, die Steicher funkelten, das Holz verbreitete Wärme und das Blech war nie penetrant. Insgesamt war alles subtil und durchsichtig disponiert – zurecht gab es für Kluttig und das Orchester auffallend viel Beifall und Bravorufe.

Nach Ende der Corona-Einschränkungen war dies die erste Premiere in der Grazer Oper wie man es durch Jahre gewohnt war: das Haus war offenbar ausverkauft, es herrschte prickelnde Premieren-Spannung und man sah wieder die gewohnten Gesichter im Publikum. Dessen Reaktion war sehr differenziert: Bravo-Rufe für Dirigent und Orchester, für Steuermann und Erik und abgestuft auch für Daland und Holländer. Das Leading-Team wurde höflich-reserviert, aber ohne Buh-Rufe empfangen.

Wer Richard Wagner „himself“ auf der Bühne sehen will, der ist – vor allem allerdings aus musikalischen Gründen – eingeladen, die Grazer Neuproduktion zu besuchen. Es gibt bis Juni noch 11 Aufführungen – die Termine finden sich hier. Dort gibt es übrigens auf der Homepage auch ein ausführliches und informatives Gespräch mit der Regisseurin Sandra Leupold, die meint, man brauche für ihre Sichtweise auch ein wenig Augenzwinkern………

24.4.2022, Hermann Becke

Szenenfotos: Oper Graz, © Werner Kmetitsch

Ein nostalgisches PS für ältere Opernfreunde sei mir ausnahmsweise erlaubt:

Ich wurde als Kind und Jugendlicher in der Grazer Oper zum Opernbegeisterten sozialisiert. In dieser Zeit stand der Holländer in Graz nicht auf dem Spielplan und so sah ich meine ersten Holländer-Aufführungen in der Wiener Staatsoper in den frühen 1960er-Jahren u.a. mit Christl Goltz, Gré Brouwenstijn und der 25-Jährigen Anna Silja als Senta, mit Otto Wiener und Hans Hotter als Holländer sowie mit Oskar Czerwenka, Kurt Böhme und Joseph Greindl als Daland und Anton Dermota und Fritz Wunderlich als Steuermann. Das prägt lebenslang die eigenen Opernideale. Es war übrigens in einer Inszenierung von Adolf Rott aus dem Jahre 1959, über deren ursprüngliche Premiere das Staatsoperarchiv vermerkt: Pfiffe und Tumulte im Zuschauerraum am Ende der Vorstellung, worauf Sänger, Dirigent, Regisseur und Bühnenbildner nicht vor den Vorhang kamen.