Karlsruhe: „Der Prophet“, Giacomo Meyerbeer

B-Premiere: 22.10.2015, (A-Premiere: 18.10.2015 / Kritik bitte runterscrollen)

Manipulation von Massen und mediale Vermarktung

Wir scheinen uns auf der Schwelle zu einer Meyerbeer-Renaissance zu befinden. Immer mehr Opernhäuser setzen seine Werke auf den Spielplan, und nicht nur große, sondern auch mittlere wie beispielsweise Würzburg und Braunschweig. Erst vor kurzem hatte die „Afrikanerin“ in Berlin Premiere. Jetzt ist am Badischen Staatstheater Karlsruhe der „Prophet“ herausgekommen.

Erik Fenton (Jean), Ensemble, Badischer Staatsopernchor, Extrachor

Zu der Aufführung kann man der Opernleitung nur gratulieren. Das war eine hoch spannende, erstklassige Angelegenheit, die dem Theater zur hohen Ehre gereicht. Schon das Werk an sich ist beachtlicher Natur. Hört man sich die Musik des „Propheten“ an, verwundert es doch sehr, dass dieses reizvolle Werk zusammen mit anderen Kompositionen des Komponisten so lange in der Versenkung verschwunden war. Gründe dafür könnten früher in einem auch die Kunst tangierenden Antisemitismus und der heftigen Kritik Richard Wagners an seinem verhassten Kontrahenten zu suchen gewesen sein. Heute haben derartige Argumente indes längst ihre Bedeutung verloren. Betrachtet man sich die Klangsprache Giacomo Meyerbeers einmal genauer, wird offensichtlich, warum er zu seiner Zeit einer der erfolgreichsten Tonsetzer war. Er hat eine eindringliche, recht imposante Musik mit großen Tableaus und gewaltigen Chorszenen geschrieben, wobei er mehr intimen Augenblicken dasselbe Recht zukommen ließ wie den sehr effektiv gestalteten großen Massenszenen, die eines der stärksten Wesensmerkmalen der Grande Opéra waren. Das liebten die Zuschauer damals und darauf verstand sich Meyerbeer hervorragend. Der Ruhm, den er damals genoss und der im Augenblick wieder aufdämmert, ist durchaus nachzuvollziehen.

Giovanna Lanza (Fidès), Agnieszka Tomaszewska (Berthe)

Dass es gerade dem „Propheten“ sehr zu wünschen ist, in Zukunft wieder häufig den Weg auf die Opernbühnen zu finden, liegt nicht zuletzt daran, dass er unglaublich zeitgemäß ist. In der Tat dürfte es nur wenige Werke des Musiktheaters geben, deren Handlung so stark modern anmutet wie es bei diesem Stück der Fall ist. Das Geschehen, das ursprünglich während des „Täuferreichs von Münster“ spielte, könnte sich genauso im Hier und Jetzt abspielen, ohne dass die Vorzeichen groß geändert werden müssten. Dieser Aktualität gilt auch das vornehmliche Interesse von Regisseur Tobias Kratzer, dem zusammen mit seinem Bühnen- und Kostümbildner Rainer Sellmaier ein wahrer Geniestreich gelungen ist. Weit entfernt von jeder vordergründigen platten Aktualisierung entwickelt er seine voll und ganz der Gegenwart verpflichtete Deutung gänzlich aus dem Stück heraus, ohne ihm Gewalt anzutun. Ihm kommt es nicht so sehr auf letztlich belanglose Äußerlichkeiten an, vielmehr legt er den Fokus auf eine prägnante Analyse des Subtextes und eine eindringliche Herausarbeitung des gesellschaftskritischen Potentials. Die Rechnung ist dann auch voll aufgegangen.

Andrew Finden (Graf Oberthal), James Edgar Knight (Jonas), Renatus Meszar (Mathisen) Luiz Molz (Zacharias), Giovanna Lanza (Fidès), Agnieszka Tomaszewska (Berthe)

Wenn sich der Vorhang hebt, erschließt sich dem Blick ein nach vorne offenes Gebäude in einem etwas heruntergekommen anmutenden Banlieu einer französischen Großstadt – vielleicht Paris, wo Meyerbeer einen seiner beiden Hauptwohnsitze hatte (der andere war Berlin). Oben rechts befindet sich die Kneipe des späteren Propheten Jean van Leyden, links davon das Schafgemach, das er sich mit seiner Mutter Fidès teilt, zu der er in einer ganz eigenen Beziehung steht. Er kann sich nicht entscheiden, ob er sie oder seine Braut Berthe mehr liebt und schwankt zwischen Mutter- und Geschlechtsliebe hin und her. Im unteren linken Bereich sieht man die Einfahrt einer Garage, rechts unten ein Getränkelager, in dem die Mitglieder der Stuttgarter Truppe TruCru /Incredible Syndicate mit sehr beachtlichen Sporteinlagen aufwarten. Sie sind es auch, die während der großen Ballettszene des zweiten Aktes mit Hilfe eines ungemein beeindruckenden rasanten Breakdance und fulminanter Akrobatik einen erheiternden Kontrapunkt in dem ansonsten recht dramatischen Geschehen setzen, wofür ihnen großes Lob gebührt. Das war eine äußerst gelungene, fetzige Angelegenheit. Wenn sich das Haus dreht, kommen ein Basketball-Platz und eine Treppe zum Vorschein, die den Volksmassen genügend Platz für ihre Versammlungen bieten. An der Seite ist ein leicht demolierter Polizeiwagen abgestellt, in dem Berthe zuerst von dem vom Grafen zum Polizeichef mutierten Oberthal und dann von einem seiner Polizisten vergewaltig wird. Das Auto geht im weiteren Verlauf des Abends in Flammen auf. Später wird noch ein Junge in einer Stretchlimousine missbraucht. Es ist ein von Gewalt, Drogen und Arbeitslosigkeit beherrschtes Ambiente, das das Regieteam hier mit enormem Nachdruck zeichnet und überzeugend einige essentielle Probleme unserer Zeit heraufbeschwört.

Hier KarlsruheProphet06f – Dass sich das Geschehen ursprünglich in der Zeit der Wiedertäufer abspielt, wurde oben schon gesagt. Da dieser Glaubensrichtung heute aber keine Bedeutung mehr zukommt, erscheinen die drei Wiedertäufer Zacharias, Jonas und Mathisen hier als eine gelungene Kombination aus Mormonen, Zeugen Jehovas und Scientology-Angehörigen. Welcher dieser Sekten sie angehörigen, ist aber letztlich gleichgültig. Der religiöse Fanatismus, um den es hier geht, lässt sich in jedem Glaubensgewand ausleben, auch im christlichen. Das lehrt nicht zuletzt die Geschichte. Demgemäß rückt Kratzer den Propheten Jean auch in die Nähe von Jesus Christus und setzt ihm gleich diesem eine Dornenkrone auf. Nachhaltig wird hier die Irrationalität jeder Religion aufgezeigt. In erster Linie interessieren den Regisseur dabei die Wirkungsmechanismen zeitgenössischer Propheterie. Diese erreichen ihre Adressaten über Internet, Facebook und Twitter. Immer auf der Höhe der Zeit bedienen sich Jean und die Widertäufer der Erzeugnisse modernster Massenkommunikation und posten, was das Zeug hält. Die Ansprachen des Propheten werden per Video auf riesige Leinwände projiziert. Ihr Inhalt ist durchaus nicht nur religiös. Die zunehmend mediale Vermarktung des Protagonisten beinhaltet zunehmend auch fragwürdige politische Aspekte.

Giovanna Lanza (Fidès), Erik Fenton (Jean), Renatus Meszar (Mathisen), Luiz Molz (Zacharias), James Edgar Knight (Jonas)

Der große Massendemagoge Jean wirkt in erster Linie über die Medien und ist darin einem modernen Politiker ausgesprochen ähnlich. Die dazu aufgebotenen Bilder sind manchmal recht simpler Natur. Die Grenze zur Satire wird dabei in bedenklicher Weise gestreift. Von Überzeichnungen und Ironisierungen wimmelt es in der Produktion nur so, was indes kein Fehler ist. Sie passen sich in das Gesamtgefüge der Grand Opéra ganz vorzüglich ein. Jean muss kein Bilderstürmer sein, um die intendierte Wirkung zu entfalten. Die Manipulation und Verführung von Massen, die Kratzer ins Zentrum seiner Betrachtungen stellt, funktioniert auch mit weniger ausgeprägten visuellen Impressionen. Hier wird ein in der Öffentlichkeit stehender Mensch künstlich größer gemacht als er ist. Und wenn im vierten Akt rein zufällig Fidès vor die Live-Kamera gerät und man in einer Großaufnahme ihr verzweifeltes Gesicht und ihr Minenspiel sieht, wird deutlich, dass auch die Privatsphäre, selbst wenn das gar nicht intendiert ist, leicht in das Licht der Öffentlichkeit geraten kann und die intimsten Gefühle publik werden. Gefährlichen Radikalisierungen sind Tür und Tor geöffnet. Da dauert es dann auch gar nicht lange, bis die Grenze zum Terrorismus überschritten ist. Der Anschlag auf Charlie hebdo wird problematisiert und am Ende sprengt sich der auf der ganzen Linie gescheiterte Jean mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft. Das war alles gedanklich sehr überzeugend und wurde mit einer stringenten Personenregie auch perfekt umgesetzt. Hier haben wir es mit hochkarätigem Musiktheater vom Feinsten zu tun. Ein herzliches Bravo an die Adresse der Regie!

Erik Fenton (Jean), Renatus Meszar (Mathisen), Luiz Molz (Zacharias), James Edgar Knight (Jonas), Mehmet Altiparmak (Ein Wiedertäufer), Giovanna Lanza (Fidès), Badischer Staatsopernchor, Extrachor

Von den Sängern wusste in erster Linie Gastsänger Erik Fenton auf sich aufmerksam zu machen, der einen hervorragenden Jean van Leyden sang. Hier haben wir es mit einem prachtvollen, kräftigen, sonoren und dunkel timbrierten Spinto-Tenor mit vorbildlicher Fokussierung zu tun, der die hohe Tessitura seiner Partie mit Bravour bewältigte und über einen großen Nuancenreichtum verfügt. Auch darstellerisch wurde er der Rolle vollauf gerecht. Als Fidès gab, ebenfalls als Gast, Giovanna Lanza am Badischen Staatstheater ihr Deutschlanddebüt. Dieser Sängerin merkte man die Rossini-Vergangenheit an. Ihr gut gestützter, voller Mezzosopran ist sehr üppiger Natur und wurde von ihr flexibel und koloraturgewandt eingesetzt, ohne dabei die stark ausgeprägte emotionale Seite zu vernachlässigen, die sich in wunderbaren lyrischen Phrasen offenbarte. Eine insgesamt ansprechende Berthe war Agnieszka Tomaszewska. Ihr Sopran klang über weite Strecken gut fundiert und ausdrucksstark und wurde größtenteils recht gefühlvoll geführt. Nur bei den Spitzentönen verhärtete sich die Stimme manchmal etwas. Ein in der Mittellage ordentlich singender, im oberen Stimmbereich aber sehr dünn klingender Zacharias war Luiz Molz. Recht flach klang der stark in die Maske singende Jonas von James Edgar Knight. Stimmlich versiert und kraftvoll zeigte sich Renatus Meszar in der Rolle des Mathisen. Lediglich durchschnittlich schnitt Andrew Finden mit nicht genügend tiefer Gesangsstütze als Graf Oberthal ab. Rollendeckend waren die zahlreichen kleinen Partien besetzt. Ein Extralob gebührt dem von Ulrich Wagner phantastisch einstudierten Badischen Staatsopernchor. Anette Schneider hatte die ebenso gut gelungene Vorbereitung des Kinderchores übernommen.

James Edgar Knight (Jonas), Luiz Molz (Zacharias), Erik Fenton (Jean), Renatus Meszar (Mathisen)

Eine treffliche Leistung erbrachte Johannes Willig am Pult, der zusammen mit der klangschön und intensiv aufspielenden Badischen Staatskapelle die Strukturen von Meyerbeers Musik einfühlsam herausarbeitete und sie in rhythmischer Ausgefeiltheit gekonnt vor den Ohren des Publikums ausbreitete. Zudem wartete er mit großer Expressivität auf und entlockte dem vielschichtigen Klangteppich viele spezifische Couleurs.

Fazit: Trotz einiger Defizite bei den Sängern kann der Besuch der Aufführung nur dringendst empfohlen werden. Herzlichen Dank an das Badische Staatstheater für diese preisverdächtige Ausgrabung!

Ludwig Steinbach, 24.10.2015

Die Bilder stammen von Matthias Baus