Premiere: 29.09.2018
… im wilden Osten
Lieber Opernfreund-Freund,
Puccinis siebte Oper wird bezüglich ihrer Popularität – abgesehen von seinen beiden Erstlingen – wohl nur noch von der Halboperette „La Rondine“ unterboten und nach der gestrigen Premiere an der Oper Leipzig, der ersten in der neuen Spielzeit, fragt man sich einmal mehr, warum!
Als Auftragsarbeit für die New Yorker MET entstanden und 1910 ebenda in Anwesenheit des Komponisten uraufgeführt, ist „Das Mädchen aus dem goldenen Westen“, so der etwas ungelenk wirkende deutsche Titel von „La Fanciulla del West“, eine Art Western auf der Opernbühne, lange bevor dieses Genre die Filmleinwand erobert hat. Erzählt wird die Geschichte der Wirtin Minnie, die als einzige Frau in einem Goldgräberlager im Kalifornien der 1850er Jahre lebt und den Diggern nicht nur als Vertraute, Mutterersatz und Lehrerin dient, sondern gleichsam zur Projektionsfläche all ihrer Träume und Sehnsüchte wird. Doch auch die herb wirkende Minnie hat Träume, ersehnt sich die große Liebe und scheint sie in einem Fremden zu finden, der ins Lager kommt und sich Dick Johnson nennt. Er ist aber der gesuchte Räuber Ramerrez, der vom Sheriff Jack Rance, der ein Auge auf Minnie geworfen hat, seit langem gesucht wird. Als Minnie und Dick ihre Liebe zueinander entdecken und Dick von Rances Schüssen verwundet wird, spielen die Wirtin und der Sheriff eine Partie Poker um das Leben des Räubers, das Minnie dank einer falschen Karte gewinnt. Doch wenig später wird Dick von den Goldgräbern aufgegriffen, der Sheriff will in sofort hängen lassen. Da erscheint Minnie und appelliert an die Herzen der Männer, die den Räuber begnadigen, so dass Minnie und Johnson in den Sonnenuntergang reiten können, um anderswo ihr Glück zu finden.
Diese Story, nur vordergründig eine Liebesgeschichte, eigentlich aber eine Studie über Sehnsüchte und Träume, hat Puccini wie schon seine „Butterfly“ mit allerlei musikalischem Lokalkolorit gewürzt, so dass die Partitur bisweilen klingt, als könne sie als Soundtrack für einen Cinemascope-Hochglanzwestern stammen. Freilich aber wird umgekehrt ein Schuh daraus: Hollywood hat sich beim Meister aus Lucca mit seinen ausufernd wogenden Bögen bezüglich Orchestrierung und Melodik ebenso bedient wie ein paar Jahrzehnte später ein gewisser Andrew Lloyd-Webber, der das Liebesthema aus der „Fanciulla del West“ in seinem „Phantom der Oper“ verwurstet. Schlicht genial umgesetzt wird das Ganze gestern Abend von den Musikerinnen und Musikern des Gewandhausorchesters unter der Leitung von Intendant und GMD Prof. Ulf Schirmer. Dessen engagiertes und beschwingtes Dirigat lotet die anspruchsvolle Partitur mit all ihren Farben voll aus. Schirmer beherrscht die Kunst des zarten Schmelzes ebenso wie die musikalisch wuchtigen Stellen, in denen er sich hörbar wohler fühlt. Das geht bisweilen zu Lasten des Sängerpersonals, aber die können sich mit ausdrucksvollem Gesang bestens zur Wehr setzen.
Bei einem eher selten gespielten Werk gibt es natürlich immer Rollendebütanten und so haben gestern gleich beide männlichen Hauptsänger ihre Charaktere erstmals verkörpert. Bariton Simon Neal startet als Sheriff Rance vergleichsweise zaghaft in den Abend, schwingt sich aber nach der Pause zu gewohnter Präsenz auf und gestaltet den Unsympathen als zerrissene Figur zwischen Machtgier, Rachsucht, Liebe und Hass. Sein voluminöse, kraftvolle Stimme verfügt über enorme Durchschlagskraft und so gerät seine Szene mit Minnie im zweiten Akt zu einem der Höhepunkte des Abends. Gaston Riveros Dick Johnson überzeugt mit unvergleichlicher Dolcezza und sicheren Höhen voller Strahlkraft, sein dunkel gefärberter Tenor hat etwas umschmeichelndes und man kann gut nachvollziehen, dass die unnahbare Minnie bei ihm ihr Frausein entdeckt. Die findet in der Sopranistin Megan Miller die ideale Gestalterin, eine warme, gefühlvolle Mittellage wird mit funkelnden und strahlenden Höhen gekrönt. Darstellerisch ist die Amerikanerin ohnehin der Star des Abends, nicht nur im eben schon erwähnten Spiel mit ihrem Gegenspieler Rance läuft sie zu Höchstform auf. Und auch in der zweiten Reihe gibt es keinen Grund zur Klage: Randell Jakobsh brilliert als Ashby mit imposantem Bass, Christiane Döcker gibt überzeugend die unsichere Indianerin Wowkle, Artur Mateusz Garbas ihren Geliebten, den minderbemittelten Billy. Ein Dutzend weitere Rollen verzeichnet der Besetzungszettel, die allesamt überzeugen können und von denen Patrick Vogel als Barkeeper Nick, Sejong Chang als imposanter Barde Jake Wallace und Tyler Clarke als bühnenpräsenter Harry den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen. Die Herren des Chores der Oper Leipzig sind in diesem Werk viel beschäftigt, wurden von Alexander Stessin und Thomas Eitler-de Lint präzise auf ihre umfangreiche Aufgabe vorbereitet, so dass auch hier ein rundum überzeugender Eindruck bleibt.
Zur Zeit des Goldrauschs spielt die Handlung des Werkes, ist also Mitte des 19. Jahrhunderts im südlichen Kalifornien zu verorten. Regisseur Cusch Jung verlegt sie ans Ende des 20. Jahrhunderts, vielleicht sogar noch später, denn im letzten Akt ist eine Wand zu sehen, die die Grenzmauer zu Mexiko darstellen könnte (doch niemand hat ein Smartphone?!). Aus den Goldgräbern sind herkömmliche Grubenarbeiter geworden, die ihre Schätze in einem Tresor aus den 1950er Jahren horten, der mit einem Aufzug im Boden der Umkleide der Arbeiter versenkt werden kann. Minnies Hütte dient der Wirtin gleichsam als Lager für die zahlreichen Alkoholika, die sie ausschenkt, und wird wie in einem Guckkasten in die Bühne geschoben, während rundherum ein Schneesturm tobt. Die Kulisse bieten zusammen mit den so varianten- wie detailreich gearbeiteten Kostümen (für beides zeichnet die begabte Karin Fritz verantwortlich) nette Bilder, sind aber für Interpretationsansätze irgendwelcher Art, abgesehen von der erwähnten Grenzmauer, wenig geeignet. Eigentlich hätte alles auch in Cowboyhut und mit Pferden funktioniert, mehr als eine schlüssige Bebilderung leisten die Szenerie und die Lesart von
Cusch Jung nicht.
Das allerdings reicht schon, um dem Publikum im ausverkauften Haus zusammen mit der umwerfenden musikalischen Umsetzung einen Zugang zu einem Werk zu ermöglichen, das zu Unrecht allzu selten den Weg auf deutsche Bühnen findet. Nutzen Sie also die Chance, sich Minnie und ihre Männer in Leipzig anzuschauen!
Jochen Rüth 30.09.2018
Die Fotos stammen von Tom Schulze.