Buchkritik: „Das Vorspiel“, Carolin Pirich

Zwischen Zeitungsartikel und Kurzgeschichte

Nicht in die Irre führen lassen solle sich der Leser vom zweideutigen Titel Das Vorspiel, und der Untertitel Begegnungen mit Musik in 15 Variationen klärt auch sofort darüber auf, dass es sich bei Carolin Pirichs Buch nicht um Handreichungen für ein glückliches Liebesleben handelt, sondern um klassische Musik. Nicht ganz nachvollziehbar ist die Gliederung des Buches in fünf Teile, von denen die drei mittleren umrahmt werden von Das Konzert I und Das Konzert II und aus vier oder sechs Kapiteln bestehen, die inhaltlich nichts miteinander zu tun haben, außer dass ihnen jeweils ein Zitat eines Musikers vorangestellt ist.

Die Rahmenhandlung schildert Vorbereitung und Durchführung eines Konzerts zu Corona-Zeiten auf einer Insel im Berliner Wannsee, wobei die Verschiffung des Flügels und dessen Transport auf einem Boot eine besondere Herausforderung darstellen und anschaulich geschildert werden. Diese wie auch die anderen Texte scheinen weniger die einer Journalistin als die einer Schriftstellerin zu sein, ganz besonders diejenigen mit dem titelgebenden Das Vorspiel oder mit Klassischer Krimi. In ihnenwird Spannung erzeugend mit Zeitsprüngen zwischen aktueller Handlung und Rückschau gespielt, auch in Konzert I wechseln Handlung und Reflexion einander ab und machen den jeweiligen Text zu einer so spannenden wie aufschlussreichen Lektüre.

Zweideutig ist er Titel Gegen den Strich, wird die Neugier des Lesers geweckt, auch indem mit einem „sie“ begonnen wird, erst später der Name Franziska Pietsch fällt. Da wird mit ebenso viel Sachlichkeit wie Empathie das Schicksal des musikalischen Wunderkinds geschildert, dessen Solistenkarriere wegen der Republikflucht des Vaters ein jähes Ende nahm. Im Konzerthaus am Gendarmenmarkt spielt die titelgebende Geschichte, die zugleich einfühlsam die seelische Gemengelage eines von 25 zum Vorspiel geladenen Kontrabassisten schildert, wie sie kundig Deutschland als Sehnsuchtsland von klassischen Musikern aus der ganzen Welt mit den verheerenden Folgen für deutsche Künstler beschreibt. Um die Mutter, die Autorin und ein in Hamburg 1940 gebautes Klavier geht es im Kapitel Vom Mut, zu viel zu sein, um einen Programmheftverkäufer in der Deutschen Oper Berlin in Vor dem Vorhang und der bis dahin so gutwillige wie gutgläubige Leser stutzt, denn aus erster Quelle, von der um den sterbenden Giuseppe Sinopoli gemeinsam mit ihrem Arztkollegen bemühten Krankenschwester der Herzklinik weiß er, dass alles etwas anders war als geschildert, und auch sonst tauchen Unstimmigkeiten auf wie eine Deutsche Oper, die angeblich keine Logen, dafür aber ein Restaurant oberhalb des Ersten Rangs haben soll. Hätte der befragte Logenschließer noch einige Jahre früher seinen Dienst angetreten, hätte er vom Schicksal seines Kollegen berichten können, der dem Tenor William Pell den Zutritt zum 1. Rang verwehrte, weil die Premiere der Walküre bereits begonnen hatte, und der sich so sehr aufregte, dass er an Ort und Stelle an einem Herzinfarkt verstarb. 

Igor Levit steht im Mittelpunkt von Ich will nicht nur der Mann sein, der die Tasten drückt, und die Verfasserin sieht in ihm eine Art Grönemeyer der Hochkultur und lobt seine Twitter-Tätigkeit wie seine politischen Aktionen. Stillstand stellt die Dirigentin Joana Mallwitz in den Mittelpunkt, handelt vom Wandel der Dirigentenrolle, der mit dem des weiblichen Taktgebers auf die Bühne oder vielmehr in den Orchestergraben einsetzt. Der schwärmerische Text lässt vermuten, dass die Autorin dem Gegenstand ihrer Betrachtungen sehr nahe steht und dieser wiederum Gustav Mahler, so dass die einzelnen Kapitelüberschriften den Tempoanweisungen einer Sinfonie des Komponisten gleichen. Anschließend wird über die Tätigkeit der Verfasserin für das Ensemble für zeitgenössische Musik berichtet, in Auf beiden Saiten anspielungsreich, vorsichtig und taktvoll das Abgleiten des Geigers David Garrett in das Showgeschäft, ins Cross over beklagt. Kulturmanager Peter Schwenkow dürfte sich mit seinem „sex sells“ nicht gern zitiert sehen.

Ein Zitat des Geigers Christian Tetzlaff wird dem dritten Block vorangestellt, in dem über den im Garten vergrabenen Koffer des polnischen Komponisten Ludomir Rózycki berichtet wird, von der Handschrift seines Konzerts in der Uni-Bibliothek, wo die Verfasserin auch mit der Urenkelin des Musikers zusammentraf, eine Begegnung, die sie nicht in journalistischer Kühle, sondern mit poetischer Wärme beschreibt. Vom Lärm der Zeitenwende handelt von der Änderung eines Konzertprogramms in der Berliner Philharmonie nach dem Angriff Putins auf die Ukraine, Zum Leben erweckt wird Mozarts Geige von Christoph Koncz, und Die dunkle Seite der Sonate beschreibt John Cages‘ vier Minuten und 33 Sekunden dauerndes Opus absoluter Stille.

Das vielseitige und mit viel Liebe für die klassische Musik und ihre Interpreten geschriebene Buch ist eine anregende und bereichernde Lektüre.

Ingrid Wanja, 20. April 2023


Das Vorspiel

Carolin Pirich

272 Seiten 2023 Berenberg Verlag

Berlin 2023

ISBN 978 3 949203 52 7