Premiere: 22. 3. 2014
Im Vakuum der Macht – Heftig umstrittene Neudeutung
Ein gewaltiges Buhkonzert musste Tilman Knabe beim Schlussapplaus über sich ergehen lassen. Wieder einmal war das zahlreich erschienene Premierenpublikum in nicht gewillt, seine Neudeutung von Mozarts „Don Giovanni“ am Staatstheater Mainz zu akzeptieren. Dabei handelt es sich um eine der eindrucksvollsten und kurzweiligsten zeitgenössischen Interpretationen des Werkes, um Musiktheater pur. Knabe hat die Oper gänzlich gegen den Strich gebürstet und praktisch ein ganz neues Stück daraus gemacht. Das ist man von ihm aber gewohnt. Gerade eine solche radikale Vorgehensweise ist es ja auch, die eine Opernproduktion erst richtig interessant macht und ihr den Stempel des Außergewöhnlichen aufdrückt. Und im Gegensatz zu vielen anderen Inszenierungen des Werkes wird es bei Knabe niemals langweilig. Dazu versteht er sein Handwerk zu gut, was auch an den von ihm vielfach verwendeten Brecht’schen und Tschechow’schen Elementen offenkundig wird. Und Sänger hat er schon immer ausgezeichnet zu führen verstanden.
Heikki Kilpeläinen (Don Giovanni), Statistin
Knabe präsentiert eine Mischform aus der Prager und der Wiener Fassung und stellt im zweiten Akt zudem im Interesse eines dichteren dramatischen Gesamtgefüges kurzerhand einige Nummern um. Zudem wird das Schlussensemble gestrichen, dessen erhobener Zeigefinger in seiner Konzeption auch keinen Sinn gemacht hätte. Ausgangspunkt ist für Knabe ein diktatorisches Gewaltsystem der Jetztzeit, dem der Commendatore als weltlich-moralische Machtinstanz vorsteht. Es ist eine gottlose Welt, in der Gewalt und Verbrechen an der Tagesordnung sind und das Leben des Einzelnen nicht gerade hoch im Kurs steht. Die Zustände ähneln denen im Krieg. Eine von Eva Mareike Uhlig mit Sturmhauben und Tarnanzügen versehene, gleichgeschaltete Militärpolizei streift durch Wilfried Buchholz’ als Einheitsbühnenbild konzipierte verbrannte Stadt mit erhöht liegender büromäßiger Machtzentrale und Hotel mit Leuchtreklame, wobei mit Hilfe der Drehbühne ein schneller Wechsel der Handlungsorte gewährleistet ist. Zahlreiche unschuldige Opfer fallen den übertrieben lang anhaltenden Maschinengewehrsalven – eine davon beendet auch mal eine Arie Don Ottavios vorzeitig – dieser mörderischen Truppe zum Opfer, unter ihnen sogar der ein Kreuz tragende Commendatore als gleichermaßen weltliche wie kirchlich-moralische Oberinstanz. Hier wirft der Regisseur einen kritischen Blick auf die Auswüchse einer nur auf sich selbst bedachten, egozentrischen Staatskirche, in der moralische Grundsätze kurzerhand zur Durchsetzung politischer Interessen herhalten müssen.
Tatjana Charalgina (Donna Anna), Statisterie
Der Tod des Staatschefs hinterlässt ein ausgedehntes Machtvakuum, das es im Folgenden wieder auszufüllen gilt. Es kommt zu einem erbitterten Kampf zwischen den von Knabe umgedeuteten Antipoden Anna und Ottavio. Nicht Liebe ist es, was die beiden jungen Leute zusammenhält, sondern Berechnung und Zweckmäßigkeit. Die vom Commendatore arrangierte Verlobung seiner Tochter mit dem von ihm propagierten, faschistisch gezeichneten Nachfolger im Amt des Staatsoberhauptes Ottavio hat mit Gefühlen überhaupt nichts zu tun, sondern beruht auf dem eiskalten Kalkül zweier gewissenloser Machtpolitiker, die beide nur darauf bedacht sind, den jeweils anderen im Disput um das oberste Amt im Staat auszustechen. Beide erweisen sich als vom Ehrgeiz zerfressene, strategisch denkende Karriereristen übelster Sorte, denen jedes Mittel recht ist, ihr Ziel zu erreichen. Neben Mord und Totschlag gehören auch Lüge und Verleumdung dazu. Darunter hat insbesondere der trefflich dem Frauenhelden Franz Liszt nachempfundene Don Giovanni zu leiden, dem so manches Verbrechen in die Schuhe geschoben wird, das er gar nicht begangen hat, so neben dem Mord am Commendatore auch die angebliche Vergewaltigung der im Aufstellen von wahrheitswidrigen Behauptungen und Spinnen von Intrigen äußerst gewandten Anna, die ihre Ammenmärchen vor laufenden Fernsehkameras eifriger Journalisten sehr überzeugend zum Besten gibt. Sie ist schon ein ganz ausgekochtes, eiskaltes Luder, das jeden Vorteil geschickt zu nutzen und sich obendrein sehr zu profilieren weiß. Der zu Beginn stattfindende Sex zwischen ihr und dem Titelhelden geschieht im beiderseitigen Einvernehmen. Auch an der von Giovannis Feinden nach allen Regeln der Kunst instrumentalisierten Zerlina, einer zarten Grenzgängerin zwischen Bauernstand und Bürgertum, die den groben und ohrfeigenfreudigen Masetto alles andere als gerne heiraten will, vergeht er sich nicht. Er ist den Übergriffen des bösen Paares gnadenlos ausgesetzt. Wie bei diesem gibt es auch in der Gesellschaft keine kittenden Bindeglieder mehr. Der ganze totalitäre Staat ist damit in Auflösung begriffen.
Hier MainzGiov14n – Tatjana Charalgina (Donna Anna), Thorsten Büttner (Don Ottavio)
Lediglich Don Giovanni, der sich liebevoll um Zerlina kümmert und im dritten Akt sogar die vom Staat gewissenlos ausgebeuteten Armen an seine Tafel lädt, könnte diesen Verfall noch aufhalten. Als Mitglied der Oberschicht nimmt er ungeachtet aller Widersacher eine führende Rolle ein, gestattet sich aber zu viele Freiheiten, die ihm trotz seines adeligen Standes nicht zustehen. Durch seine Handlungen und einen ausgeprägten scharfen Zynismus entlarvt er die fragwürdige Funktionsweise des Gewaltstaates und führt das anrüchige System von Politik und Macht ad absurdum. Ein Revolutionär ist er indes nicht; einen Versuch, an den schlimmen Verhältnissen etwas zu ändern, unternimmt er nie. Er weiß, dass ein derartiges Unterfangen zwecklos wäre, denn die üble Nachrede von Anna und Ottavio hat seinem Leumund zu sehr geschadet. Den Ruf als Verführer vermag er nicht mehr abzulegen. Was ihm in dieser Situation nur noch zu tun übrig bleibt, ist, den Spieß kurzerhand umzudrehen und jetzt seinerseits alles zu tun, um dieser angedichteten Reputation gerecht zu werden. Damit geht er unausweichlich seinem Ende entgegen. Zu Lebzeiten des Commendatore, dessen Bild im zweiten Akt auf einmal lebendig wird, war er noch relativ sicher. Mit dessen Ableben ist nun auch sein Tod bei der Gesellschaft beschlossene Sache, worüber sich Giovanni gänzlich im Klaren ist und den kurzen Rest seines Lebens in einem ausgelassenen Fest noch einmal richtig genießen will. Er erkennt, dass er keine Zukunft mehr hat, und deutet seine mit großer Ausgelassenheit in die Welt gerufene Parole „Viva la libertà“ in die Bereitschaft um, diese Welt, in der die skrupellose Anna schließlich die Herrschaft übernimmt und Ottavio zähneknirschend das Nachsehen hat, freiwillig zu verlassen. Er stirbt einen symbolischen Tod und verlässt die Bühne durch den Zuschauerraum. Das Machtvakuum ist zum Schluss zwar beendet, die Zustände werden aber auch unter der neuen Despotin Anna kaum eine Besserung erfahren. Das war alles hervorragend durchdacht und sehr stringent umgesetzt. Ohne Zweifel stellt Knabes packende, regelrecht unter die Haut gehende Inszenierung einen ganz gewichtigen Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte des Werkes dar. Bravo!
Tatjana Charalgina (Donna Anna), Thorsten Büttner (Don Ottavio)
Größtenteils hervorragend waren auch die sängerischen Leistungen. Heikki Kilpeläinen gab mit gut sitzendem, prägnantem Bariton einen soliden Don Giovanni. Seine überzeugendsten Momente hatte er an den Stellen, an denen er seine Stimme im Legato weich und geschmeidig dahinfliessen lassen konnte, ohne dabei in einen Parlandostil zu verfallen. Auch darstellerisch war er überzeugend. Keinen sonderlich guten Tag hatte Ks. Hans Otto Weiß, der als Leporello um einiges hinter seinen sonstigen Leistungen zurückblieb. Etwas schwerfällig klang der Commendatore von José Gallisa. In der Rolle des von der Regie nicht gerade sympathisch angelegten, groben Masetto machte der junge Richard Logiewa mit sauber geführtem, gut fokussierten Stimmmaterial nachhaltig auf sich aufmerksam. Seine Leistung war durchaus überzeugend, auch wenn die Tessitura dieser Bassrolle der seiner Stimme nicht entsprach. Er ist aufgrund seines Bruchtons ‚e’ eindeutig ein Bariton und kein Bassist. Indes sei die Vermutung gestattet, dass in Logiewa ein guter Don Giovanni nachwächst. Das Zeug dazu hätte er. Neben ihm sang Saem You mit fein durchgebildetem, trefflich verankertem und farbenreichem Sopran die Zerlina. Sowohl in ihrem Hass als auch in ihrer Liebe zu dem Titelhelden glaubhaft war die Donna Elvira der sonor und tiefgründig intonierenden Patricia Roach. Die gesangliche Krone des Abends gebührte aber dem sich bekriegenden jungen Paar, das an der ungewohnten negativen Weise, wie Knabe sie in Szene setzte, sichtbar Spaß hatte. Die schon oft bewährte Tatjana Charalgina, die man noch in der vorletzten Spielzeit als Despina erleben durfte, hat nun endlich das Fach gewechselt und hinterließ als Donna Anna einen hervorragenden Eindruck. Diese Rolle liegt ihrem bestens italienisch fokussierten, substanz- und farbenreichen lyrischen Sopran ausgezeichnet. Ihr gelang ein differenziertes und nuancenreiches Rollenportrait voller Kraft und ausgemachter Intensität. Die Dramatik des „Or sai chi l’ onore“ strömte ihr ebenso versiert aus der Kehle wie die Lyrismen des „Non mi dir“. In Nichts nach stand ihr der junge Thorsten Büttner, der mit dem Don Ottavio ebenfalls nachhaltig zu begeistern wusste. Die ungeheure Musikalität seines Vortrags, die Weichheit von Tongebung und Phrasierung sowie die sehr elegante Linienführung seines phantastisch italienisch geführten Ausnahmetenors gemahnten wieder einmal an den großen Fritz Wunderlich. Wie die seines leider viel zu früh verstorbenen legendären Fachkollegen zeichnet sich auch Büttners Stimme durch einen immensen Klangreichtum und eine enorme Ausdrucksskala aus. Phantastisch, wie er die ausgedehnten Koloraturen des „Il mio tesoro intanto“ auf einem langen Atem ebenmäßig dahinfliessen ließ und auch bei „Dalla sua pace“ sehr berückende, ebenmäßige Töne zauberte. Dass er die zweite Arie entgegen der Tradition mit dem großen Zorn des im Kampf gegen Anna letztlich Unterlegenen vortrug und sich in der ersten Arie als scharf reflektierender Analytiker erwies, der sich ganz genau den nächsten Schritt im Duell um die Macht überlegt, war Ausfluss des Regiekonzeptes. Ansprechend präsentierte sich der von Sebastian Hernandez-Laverny einstudierte Chor.
Heikki Kilpeläinen (Don Giovanni)
Am Pult setzte GMD Hermann Bäumer zusammen mit dem gut gelaunt aufspielenden Philharmonischen Staatsorchester Mainz auf einen insgesamt lockeren, transparenten und farbenreichen Mozart-Klang, der indes durch teilweise recht abenteuerlich anmutende, viel zu schnelle Tempi etwas relativiert wurde. Etwas mehr Ruhe hätte seinem Dirigat gutgetan.
Fazit: Modern eingestellten Gemütern und Knabe-Fans sei der Besuch der viel Neues beinhaltenden Aufführung sehr empfohlen. Von der sängerischen Seite her lohnt sich die Fahrt nach Mainz schon wegen Charalgina und Büttner.
Ludwig Steinbach, 24. 3. 2014
Die Bilder stammen von Martina Pipprich.