Mainz: „La Traviata“

Premiere: 11. 1. 2014

Sternstunde hochkarätigen Musiktheaters – Im Getriebe einer unbarmherzigen Starkult-Maschinerie

Vera Nemirova, die nach „La Bohème“ und „Idomeneo“ bereits zum dritten Mal in Mainz inszenierte und deren Mutter Sonja Nemirova an der Regie mitwirkte, hat hervorragende Arbeit geleistet. Sie ging das Werk gänzlich unkonventionell an und stellte es gekonnt in einen überzeugenden zeitlos-modernen Rahmen. Ihr Produkt war recht assoziativer Natur und zeichnete sich obendrein durch einfühlsame Detailarbeit und eine ausgeprägte, stringente Personenregie aus. Auch im Umgang mit den Lehren eines Bertolt Brecht und Tschechow’schen Elementen erwies sie sich an diesem Abend wieder als Meisterin. Ihr langjähriger künstlerischer Partner Jens Kilian hat ihr einen Raum auf die Bühne gestellt, der zahlreichen Verwandlungen unterworfen ist und sich von Akt zu Akt immer mehr nach hinten hin öffnet. Die bei offenem Vorhang erfolgenden Wechsel der Schauplätze sind weniger realer Natur als vielmehr Manifestationen von Violettas Phantasie entsprungener Sehnsuchtsorte. Konsequenterweise nimmt die Inszenierung zunehmend einen faszinierenden transzendenten Charakter an, der Ausfluss von Traviatas Seelenleben ist.

Vida Mikneviciute (Violetta), Thorsten Büttner (Alfredo)

Geschickt rollt die Regisseurin das Stück von hinten auf und erzählt es als Rückblende aus der Perspektive der von ihr enorm aufgewerteten Maskenbildnerin Annina. Diese ist fast ständig präsent und verfolgt mit aufrichtiger Anteilnahme das tragische Schicksal Violettas, das sich in einem Theater auf dem Theater samt davor liegender Künstlergarderobe abspielt. Dabei ist es Vera Nemirova nicht um irgendwie geartete sittliche Anprangerungen zu tun, sondern um das Aufzeigen eines Künstlerinnenschicksals. Die Heldin ist bei ihr keine Prostituierte, sondern eine gefeierte Sängerin unserer Zeit, die gnadenlos der Gnade und Ungnade ihrer Fangemeinde unterworfen ist. Zu Beginn gibt sie ihren Bewunderern während einer im Foyer eines prachtvollen Opernhauses im Neorenaissance-Stil stattfindenden Premierenfeier Autogramme. Ihre Photos, die sie so bereitwillig signiert und die in diesem frühen Stadium des Geschehens noch hoch im Kurs stehen, verlieren im Lauf des Abends immer mehr an Wert und haben letztlich nur noch die Funktion von Erinnerungsstücken an eine vielversprechend begonnene, letztlich aber abrupt zum Erliegen gekommene Laufbahn. Ihr trauriges Geschick nimmt Frau Nemirova zum Anlass, mit den Gegebenheiten des gegenwärtigen Sänger- bzw. Künstlermarktes radikal abzurechnen. Schonungslos und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen zeichnet sie ein eindringliches Bild einer anrüchigen, nur auf oberflächliches Amusement bedachten, skandalhungrigen Fangemeinde, die ihrem augenblicklichen Star Violetta anbetend zu Füßen liegt, nur um ihn später umso rücksichtsloser fallen zu lassen, wenn er ihren Erwartungen nicht mehr entspricht.

Ks Hans-Otto Weiss (Dr. Grenvil), Thorsten Büttner (Alfredo), Vida Mikneviciute (Violetta)

Dieses Objekt der Begierde, das sich den strengen Bedingungen des unbarmherzigen Künstlermarktes nicht mehr länger unterordnen will und als äußeres Zeichen hierfür sein von Marie-Thérèse Jossen entworfenes blutrotes Kleid ablegt, ist zum Untergang verdammt. In dem Maße, wie ihr der zu Beginn ziemlich frech gezeichnete Alfredo – das wird insbesondere beim hier sehr ungewöhnlich gedeuteten Brindisi offenkundig – ihr im kammerspielartig erzählten ersten Akt durch seine Liebe die Wahrheit über ihren lediglich eine Seifenblase darstellenden gesellschaftlichen Status und dessen Fragwürdigkeit aufzeigt, entzieht sie sich in immer stärkerem Maße der gesellschaftlichen Kontrolle und wird auf diese Weise ins Abseits gedrängt. Die deutsche Übersetzung des Titels „La Traviata“ als „Die vom Wege Abgekommene“ versteht Frau Nemirova nicht als moralische Verirrung der Titelheldin, sondern als Ausbruchversuch einer berühmten Sängerin, die dem ihr vorbestimmten Künstlerweg nicht mehr folgen will und darob gesellschaftlich entgleist. Indem sie sich zu ihrer Liebe zu Alfredo bekennt und mit ihm flieht, wird sie symbolisch an das Stierschädel-Kreuz gesellschaftlicher Acht geschlagen, von dem sie nicht mehr heruntersteigen kann. In dieser tristen Situation kehrt sie innerlich in die unbeschwerten Tage ihrer Kindheit auf dem Lande zurück, was seitens der Regie durch ein kindliches Double ausgedrückt wird. Vergebens sehnt sie in dem sehr surrealistisch interpretierten dritten Akt, in dem es kein Krankenlager gibt, Alfredo herbei. Das Schlussbild erscheint als Sehnsuchtstraum Traviatas von der Trauer Alfredos und seines Vaters an ihrem von einem Hoffnung symbolisierenden kleinen Bäumchen gesäumten Grab. Dabei hat sie wieder den Ausgangspunkt des Geschehens, die Garderobe des Anfangs, erreicht. Ein Entkommen aus den sie verfolgenden gesellschaftlichen Zwängen ist nicht möglich. Von hier aus sieht sie die Vision ihres Geliebten auf dem bereits erwähnten, im Hintergrund aufragenden Theater auf dem Theater. Das Abweichen von der ihr oktroyierten Bahn führt unausweichlich in den symbolischen Tod der Diva. Am Ende verlässt sie die Bühne durch den Zuschauerraum und entzieht sich damit endgültig dem unaufhaltsamen Getriebe einer unbarmherzigen Starkult-Maschinerie, die jede(n) Sänger(in) bedenkenlos wegwirft, sobald sie/er ihre/seine Funktion nicht mehr erfüllen kann und mithin nicht mehr ins Schema passt. Ihrer Nachfolgerin Annina wird es nicht besser ergehen. Vera Nemirova lässt kein gutes Haar an dem herzlosen Apparat des undurchsichtigen Künstlermarktes, dem schon etliche zuerst hoch verehrte Künstler zum Opfer gefallen sind. Seine Auswüchse stellt sie unnachsichtig und mit großer Vehemenz an den Pranger. Hier haben wir es mit einem zeitlos gültigen Thema von enormer sozialer Brisanz zu tun, das in Frau Nemirovas Deutung eine phänomenale Umsetzung erfuhr. Bravo!

Vida Mikneviciute (Violetta), Thorsten Büttner (Alfredo)

Ungewohnt erschien das von Florian Csizmadia und dem Philharmonischem Staatsorchester Mainz erzeugte Klangbild. Das mag an der ungewöhnlichen Platzierung der Musiker gelegen haben. Sie saßen in einer von der Norm gänzlich abweichenden Aufstellung, wobei insbesondere die Streicher über die ganze Breite des Grabens verteilt waren. Mit konventionellen Hörgewohnheiten wurde damit an diesem Abend schon gehörig aufgeräumt. Bereits das Brindisi im ersten Akt unterzog der Dirigent einer von der Konvention stark abweichenden Deutung, indem er es mit enormem Konfliktpotential darbot, was dem begleitenden Geschehen auf der Bühne indes trefflich entsprach. Dabei ging er nicht allzu laut ans Werk, sondern gab leisen Tönen den Vorzug. Die Folge war ein etwas abgehobener, schwebender Klang, der sich den Sängern bereitwillig unterordnete. So interessant die Auffassung des Dirigenten von Verdis Musik auch war, an manchen Stellen wäre etwas mehr Feuer und Glut des musikalischen Ausdrucks wünschenswert gewesen.

Heikki Kilpeläinen (Germont), Vida Mikneviciute (Violetta)

Und was für ein phantastisches Ensemble hatte das Staatstheater Mainz aufgeboten! Das begann schon bei Vida Mikneviciute, die trotz einer augenscheinlich nicht ganz überwundenen Erkältung als Violetta eine wahre Glanzleistung erbrachte, was von einer guten Gesangstechnik zeugt. Diese junge, vielversprechende Sopranistin hat ihre Stimme bestens im Griff. Was sie an diesem Abend mit ihrem kräftigen vorzüglich sitzenden, strahlenden, und ausdrucksstarken, bereits deutlich ins jugendlich-dramatische Fach tendierenden Sopran bot, war schon außergewöhnlich. Der große Nuancen- und Farbenreichtum der Stimme gepaart mit einer ausgezeichneten Pianokultur – das „Dite alla giovine“ hat man seit Sofia Kallio in Coburg vor zwei Jahren nicht mehr mit so wunderbar verinnerlichten, hauchzarten, dabei aber vorzüglich gestützten Pianissimo-Tönen singen gehört -, kulminierten in einer sehr zu Herzen gehenden Gesamtleistung, zu der auch ihre intensive Darstellung einen gehörigen Teil beitrug. In Nichts nach stand ihr Thorsten Büttner, der sich mit dem Alfredo die höchsten Weihen ausgezeichneten Verdi-Gesangs errang. In der Tat kann die Leistung des jungen, sympathischen Sängers, der zu den ersten Kräften der Mainzer Oper gehört und dessen farbenreicher und differenziert geführter Prachttenor ausgezeichneter italienischer Natur ist, nur an dem Niveau eines Fritz Wunderlich gemessen werden. Was den schönen Schmelz seiner Stimme, die Emotionalität des Ausdrucks sowie die einfühlsame Linienführung angeht, erwies sich Büttner als legitimer Nachfolger des legendären Tenors, dem er vokal in vielem ähnelt. Ihm und Frau Mikneviciute steht bei pfleglichem Umgang mit ihrem kostbaren Material die ganz große Karriere bevor, die ihnen auch sehr zu gönnen ist.

Vida Mikneviciute (Violetta), Thorsten Büttner (Alfredo), Heikki Kilpeläinen (Germont), KS Hans-Otto Weiss (Dr. Grenvil), Anke Steffens (Annina)

Zu diesen beide Ausnahmekünstlern gesellte sich noch Heikki Kilpeläinen, der als Giorgio Germont ebenfalls einen bleibenden Eindruck hinterließ. Mit hoher Autorität zeichnete er einen ganz den vorherrschenden gesellschaftlichen Konventionen verhafteten Großbürger, der im Lauf des Stückes, von Violettas Edelmut und Herzensgüte sichtlich gerührt, eine positive Entwicklung durchmacht, zu der der noble, volltönende und runde Klang seines Baritons gut passte. Schauspielerisch und gesanglich solide präsentierte sich Anke Steffens als Annina. Einen profunden Mezzosopran brachte Patricia Roach für die Flora mit. Mit prägnantem, sonorem Bassmaterial empfahl sich Ks Hans-Otto Weiss für den Dr. Grenvil. Ansprechend gaben José Gallisa und Dietrich Greve den Marquis d’ Obigny und den Baron Douphol. Etwas zu hoch gestützt sang Ks Jürgen Rust den Gaston. Patrick Hörner (Joseph). Seok-Gill Choi (Bediensteter Floras, Kommissionär) und Gabriela Süss als Violetta-Double rundeten das homogene Ensemble ab.

Fazit: Diese Sternstunde in Sachen hochkarätigen Musiktheaters ging unter die Haut, geriet zu einem großen Erfolg für alle Beteiligten und brannte sich tief ins Gedächtnis ein. In den Schlussapplaus des begeisterten Publikums, dem für seine Aufgeschlossenheit gegenüber zeitgenössischen Deutungen ein großes Lob auszusprechen ist, mischten sich keinerlei Missfallenskundgebungen. Hier haben wir es mit einer Produktion zu tun, die die Rezeptionsgeschichte des Werkes voranbringt und in die Annalen des Mainzer Theaters eingehen wird und zu der man Vera Nemirova und dem Staatstheater Mainz nur gratulieren kann. Dieser sensationelle Abend hatte Festspielniveau!

Ludwig Steinbach, 14. 1. 2014
Die Bilder stammen von Martina Pipprich.