Premiere. 10.1.2016
Kampf von Ideologien und tödlicher Fanatismus
Eine Koproduktion mit den Opernhäusern von Antwerpen und Gent stellt die Neuinszenierung von Fromental Halévys Oper „La Juive“ am Nationaltheater Mannheim dar. Dieses bereits im Jahre 1835 in Paris aus der Taufe gehobene Werk, das sogar Richard Wagner zu schätzen wusste, wurde rasch eine der erfolgreichsten Opern seiner Zeit, geriet im vergangenen Jahrhundert aber zunehmend in Vergessenheit, was nicht zuletzt an dem antisemitischen Kurs des nationalsozialistischen Regimes gelegen hat, das Stücke aus der Feder des Juden Halévy kurzerhand auf den Index setzte und verbot. Gott sei Dank haben sich in den letzten Jahren immer mehr Opernhäuser auf dieses phänomenale Werk besonnen und es auf den Spielplan gesetzt. Bislang hat „La Juive“ an allen Orten, an denen es gespielt wurde, einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Und auch in Mannheim war der Erfolg enorm. Hier stimmte einfach alles. Musik, Inszenierung und gesangliche Leistungen fügten sich zu einer phantastischen Symbiose zusammen, die das zahlreich erschienene Publikum stark in seinen Bann zog und am Ende zu einem überaus herzlichen Schlussapplaus animierte, in den sich überhaupt keine Missfallenskundgebungen mischten.
Zurab Zurabishvilli (Eléazar), Astrid Kessler (Rachel), Chor
Wer diese sensationelle Aufführung gesehen hat, wird sie garantiert nicht so schnell wieder vergessen. Die Spannungskurve war an diesem überaus gelungenen Abend ganz hoch angesetzt. Am Nationaltheater erklang eine gekürzte Fassung der Oper. Peter Konwitschny, der zum ersten Mal in Mannheim am Regiepult Platz genommen hatte, entkleidete das Werk aller Ingredienzien einer Grande Opéra und machte daraus ein eindringliches Kammerspiel auf höchstem Niveau. Dabei setzte er tüchtig den Rotstift an und strich ungefähr ein Viertel der Musik, so sämtliche Ballette und einige Chöre. Diese Vorgehensweise erlaubte es Konwitschny, sich voll und ganz auf die Handlungsträger zu konzentrieren. Seine stringente und lebendige Personenregie war meisterhaft. Wie wohl kein anderer Regisseur versteht er es, die Sänger zu führen und beim Agieren ihr emotionales Gedächtnis zu benutzen. Die Folge war ein Höchstmaß an Authentizität in den akribisch herausgearbeiteten zwischenmenschlichen Beziehungen. Auch die Charakterzeichnungen sind Konwitschny hervorragend gelungen. Seine große Versiertheit wurde auch bei der einfühlsamen Führung des in Felsenstein’scher Manier stark individualisierten Chors spürbar. Zudem bezieht er öfters in Brecht’scher Art und Weise den Zuschauerraum in seine Interpretation mit ein. Eléazar, Rachel und die Choristen ziehen sich manchmal über den Orchestergraben überquerende Brücken ins Parkett zurück und begeben sich zwischen die Sitzreihen, wodurch die Verbindung von Zuschauern und Protagonisten immens verstärkt wird. Dergestalt wird das Auditorium zum Teil des dramatischen Geschehens. Auf Verfremdungen à la Brecht versteht sich Konwitschny grandios. Auch Tschechow’sche Elemente lässt er geschickt in seine Deutung einfließen. Technisch ist ihm wahrlich nicht das Geringste anzulasten. In dieser Beziehung sucht er seinesgleichen.
Astrid Kessler (Rachel), Zurab Zurabishvilli (Eléazar), Chor
Aber auch seine Konzeption war in hohem Maße überzeugend. Nichts lag ihm ferner, als aus Halévys Oper ein prunkvolles Ausstattungsstück zu machen. An den alten Pomp der Grande Opéra erinnert nur noch die im Hintergrund mächtig aufragende, von Johannes Leiacker entworfene Rosette einer gotischen Kathedrale, die gleichzeitig auch den einzigen Hinweise auf die Zeit gibt, in der „La Juive“ spielt: die des Konstanzer Konzils, das von 1414 bis 1418 abgehalten wurde. Historische religiöse Aspekte interessieren Peter Konwitschny weniger. Die alte Feindschaft zwischen Juden und Christen spielt bei ihm keine Rolle. Sein Blick richtet sich auf die Gegenwart. Hier stehen sich die unterschiedlichsten radikalen, sich oft gegenseitig hassenden Parteien und Gruppierungen gegenüber, die in ihren schwarzen Businessanzügen – die Kostüme stammen ebenfalls von Herrn Leiacker – geradezu mafiös anmuten. Man merkt, mit diesen Leuten ist nicht zu spaßen. Sie verbannen gnadenlos jeden aus ihrer Mitte, der ihren Ansprüchen nicht entspricht, gleichgültig welcher Rasse, Konfession oder politischen Richtung er angehört. Dabei stellt die Farbe der Hände das theatralische Zeichen für die Gruppenzugehörigkeit dar. Die Christen haben blaue, die Juden gelbe Hände. Später sieht man noch rote, grüne und violette Hände. Es gibt heute eben die unterschiedlichsten fundamentalistischen Bewegungen. Darauf, ob man Christ oder Jude ist, kommt es nicht an. Wie gesagt, das Religiöse tritt bei Konwitschny zurück, bei ihm stehen ganz allgemein austauschbare Ideologien, die auch mal terroristische Ausmaße annehmen können, im Zentrum des Interesses. Das zeigt sich, wenn der Regisseur vom Chor in reger Fließbandarbeit Sprengstoffgürtel herstellen lässt und auch Rachel einen solchen umlegt. Die fanatische Ideologie ihrer Umwelt hat auch auf sie abgefärbt und lässt sie zur Verbrecherin werden – eine sehr tragische Komponente mit rasantem Gegenwartsbezug. Die Konflikte zwischen den Völkern sowie die Mechanismen gegenseitiger Vernichtung sind allgegenwärtig und unlösbar. Kein Wunder, dass unter diesen Umständen dem Terror Tür und Tor geöffnet ist.
Estelle Kruger (Eudoxie), Juhan Tralla (Léopold)
Lediglich der sich aus Liebe zu der Jüdin Rachel als Jude ausgebende christliche Reichsfürst Léopold wechselt die Farben der Hände. Als er und die Geliebte, der er kurz zuvor seine wahre Identität offenbart hat, von Rachels Vater Eléazar entdeckt werden, steckt er seine jetzt blauen Hände praktischerweise einfach in die Hosentasche. Stark ist er bei Konwitschny nicht, eher ein ausgewiesener Schwächling, der sich mal unter der Tisch- und mal unter der Bettdecke verkriecht, um erst von seiner Frau Eudoxie, später von Rachel nicht entdeckt zu werden. Die beiden Frauen werden von Konwitschny ungleich stärker gezeichnet. Bei Eudoxie betont er ihre große Vorliebe für Schmuck, Rachel führt er ausgesprochen streng und nüchtern vor. Von großer Eindringlichkeit ist die Szene, in der die zuvor verfeindeten Damen versuchen, die Gegensätze zu überwinden. Sie schließen Freundschaft, führen ein Freudentänzchen auf und waschen sich mit Wasser die Farbe von den Händen ab. Damit wischen sie sich symbolisch auch die jeweilige Ideologie ab. Die hierin zum Ausdruck kommende Hoffnung auf Versöhnung ist aber nicht real, sondern als Utopie aufzufassen. Eine Besserung der Verhältnisse wird wohl nicht eintreten. Und das geht uns alle an.
Astrid Kessler (Rachel), Estelle Kruger (Eudoxie)
Daran hat nicht zuletzt der Eigensinn der beiden Vaterfiguren regen Anteil. Kardinal Brogni erweist sich als vehementer Verteidiger der alten christlichen Werte, der aber durchaus auch mal menschliche Regungen zeigen darf. In puncto Starrsinn ist ihm Eléazar weit überlegen. Dieser ist gleichsam ein Gefangener seiner strikten Dogmen. Als äußeres Zeichen dafür weist das Bühnenbild auch einige Stahlgerüste auf, die wie große Gitter wirken. Seiner inneren Gefangenschaft kann Eléazar nicht entfliehen. Er ist ein Mensch, für den die Ideologie höher steht als das Leben seiner – angeblichen – Tochter, die er für diesen Zweck opfert. Das lässt ihn in den Augen des Betrachters alles andere als sympathisch erscheinen. Noch anrüchiger ist allerdings die Umwelt, durch die die negativen Charaktereigenschaften in ihm ja erst entstanden sind. Eine Versöhnung mit dem Gegenspieler lehnt er ab und vermählt sich lieber zusammen mit seiner Tochter dem Tod. Am Ende erscheinen beide als Braut und Bräutigam – ein ganz imposantes Bild. Der Fanatismus hat auf der ganzen Linie gesiegt.
Astrid Kessler (Rachel), Zurab Zurabishvilli (Eléazar)
Auch gesanglich konnte man hoch zufrieden sein. Zurab Zurabishvili hat mit einer großartigen schauspielerischen Ader die verschiedenen Befindlichkeiten des Eléazar – vom ausgemachten Fanatismus bis zur verzweifelten Emotionalität – recht deutlich gemacht. Auch stimmlich war er mit seinem bestens fokussierten, substanzreichen und farbigen Spinto-Tenor sehr überzeugend. Wunderbar gelang ihm insbesondere seine herrliche f-moll – Arie. In puncto darstellerischer Kraft war ihm der junge Sung Ha als sein Gegenspieler Kardinal Brogni durchaus ebenbürtig. Vokal vermochte er mit sonorem, ausdrucksstarkem Bass und einer ausgeprägten Tiefe für sich einzunehmen. Das Duett zwischen den beiden Vätern gehörte zu den Höhepunkten der Aufführung. Astrid Kessler war eine darstellerisch starke Rachel, der sie mit ihrem gut sitzenden, gefühlvoll und ausdrucksstark geführten Sopran auch stimmlich voll und ganz entsprach. Mit tadelloser koloraturgewandter und flexibler Stimme sang Estelle Kruger die Prinzessin Eudoxie. Obwohl ihm einmal ein Spitzenton seiner schwierigen Partie hörbar schwer fiel, ist dem mit schönen lyrischen Qualitäten und guter Verankerung seines Tenors intonierenden Léopold von Juhan Tralla eine insgesamt ansprechende Leistung zu bescheinigen. Markantes Bariton-Material brachte Joachim Goltz für den Ruggiero mit. Ein Extralob geht an den von Francesco Damiani vorzüglich einstudierten und markant singenden Chor.
Zurab Zurabishvilli (Eléazar), Sung Ha (Kardinal Brogni), Astrid Kessler (Rachel)
Am Pult lotete Alois Seidlmeier zusammen mit dem prächtig disponierten Orchester des Nationaltheaters Mannheim jede Facette der vielschichtigen Partitur mit großer Akribie und Klangpracht aus. Seine Auffassung von Halévys Musik atmete enorme Eleganz und Klarheit und war von großer Durchsichtigkeit geprägt. Gleichzeitig zeichnete sich das Dirigat aber auch durch großes Feuer und Rauschhaftigkeit aus. Die auf der Bühne vorherrschende lodernde Glut und die immensen Emotionen fanden im Orchestergraben eine treffliche Entsprechung.
Fazit: Eine in jeder Beziehung sensationelle, mitreißende und in hohem Maße preisverdächtige Aufführung, deren Besuch jedem Opernfreund dringendst ans Herz gelegt wird. Die Fahrt nach Mannheim hat sich wieder einmal voll gelohnt!
Ludwig Steinbach, 11.1.2016
Die Bilder stammen von Hans Jörg Michel